Montag, elfter April

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Mein Wecker klingelt. Es ist halb sieben. In einer halben Stunde fährt mein Bus. Ich quäle mich aus der wohligen Wärme meines Bettes und ziehe mich an. Eine einfache Jeans und ein Hoodie reichen heute. Ich gehe ins Bad und bürste meine Haare. Jeden Tag das Gleiche. Ich bin gelangweilt von dieser Routine. Ich gehe nach unten, wo Annika schon am Küchentisch sitzt und Müsli isst. Ich platziere mich neben ihr, esse aber nichts. Jetzt ist es bloss noch ein Warten, bis ich losmuss. Ich hätte bestimmt noch fünfzehn Minuten länger liegen bleiben können.

Ich sitze mit meinen Kopfhörern in den Ohren und einem Buch auf den Beinen im Bus. Lesen hilft mir, mich in dem Trubel der Menschen zu beruhigen. Zehn Minuten später bin ich bei meiner Schule. Ich habe zuerst Deutsch. Ich begebe mich in den entsprechenden Raum. Neben meinem Platz sitzt ein Mädchen, das ich hier noch nie gesehen habe. Die Hälfte ihrer Haare sind in einem strahlendem Lila, die andere Hälfte ist matt schwarz. Sie hat Sommersprossen übers ganze Ge-sicht verteilt. Sie ist wunderschön in einer ganz besonderen Weise. Ich will mich eigentlich nicht neben sie setzen, weil ich sie nicht kenne, aber noch weniger will ich an einen anderen als meinen üblichen Tisch sitzen. Also gehe ich hin und sitze ab.

«Hi, ich bin Anaïs», stellt sie sich vor und lächelt. «Emilie», ant-worte ich zögernd. Ich merke, dass ich rot werde. Mist. Schnell wende ich mich ab. Was sollte das denn jetzt? Ein Mädchen stellt sich vor und ich werde gleich zur Tomate? Ich schüttle den Kopf und hole meine Schulbücher hervor.

Mein Ärmel ist nach hinten gerutscht und ich sehe Anaïs Blick auf meine Wunden fallen. In mir baut sich eine Panik auf. Schnell schiebe ich den Pulli wieder nach vorne und schaue in mein Buch. Ein Zettel versperrt mir plötzlich die Sicht auf die Wörter vor mir. Anaïs hat ihn mir zugesteckt. Widerwillig lese ich, was darauf steht. Wenn du reden willst, bin ich hier. Ich verstehe dich. Ich glaube nicht, dass ein Mädchen wie Anaïs mich je verstehen könnte. Schliesslich verstehe ich mich selbst ja nicht. Ich gucke zu ihr hinüber. Vorsichtig zieht sie ihren Ärmel hoch und gewährt mir so Sicht auf ihre Narben. Vielleicht ver-steht sie mich ja wirklich.

Die Schule ist fertig, es ist vier Uhr. Anaïs steht neben mir. Wir ha-ben in den Pausen viel geredet, über alltägliche Dinge, nicht über unser gemeinsames Geheimnis. Anaïs ist trans. Das hat sie mir in der längeren Pause erzählt. Deshalb hat sie an unsere Schule gewechselt. Sie wurde dafür gemobbt, was ich nicht verstehe. Sie hat immer noch einen männlichen Körper, trägt push-up BHs um es zu verstecken. Ich umarme sie. Diese Welt verdient sie nicht. Ich kenne sie kaum einen Tag, und doch weiss ich jetzt schon, dass wir uns super verstehen werden. Ich bin eigentlich eher ein Einzelgänger, besonders in der Schule. Aber mit Anaïs kann ich mir vorstellen, sozialen Kontakt zu pflegen.

Sie gibt mir ihre Nummer. Ich rufe sie an, damit sie meine auch hat. Sie nimmt den gleichen Bus wie ich. Wir sitzen da, nebeneinander, plötzlich lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter. Zuerst bin ich etwas perplex, dann merke ich, dass ich das Gefühl mag, es gibt mir eine Art Geborgenheit, die ich nie hatte.

Ich muss vor Anaïs aussteigen. Ich hätte nie gedacht, dass es mich einmal stören würde, dass ich von jemandem wegmuss. Dieses Mädchen bewirkt komische Dinge in mir. Und das, obwohl ich sie eigentlich nicht kenne.

Ich bin zu Hause in meinem Bett. Im Hintergrund läuft Musik, ich bin auf mein Buch konzentriert. Bis mein Telefon einen Ton von sich gibt. Anaïs hat mir ein GIF von einer lustigen Katze geschickt. Ich lächle und antworte mit einem lachenden Smiley. Wie geht es dir?, schreibt sie. Ich überlege. Normalerweise würde ich ohne nachzudenken antworten, dass es mir gut geht. Aber sie will ich nicht anlügen. Ich höre in mich hinein. Eigentlich fühle ich nichts. Das ist zwar nicht negativ, aber auch nicht gerade gut. Eigentlich ist es schon eher schlecht. Ich hasse das Gefühl der Leere. Es verfolgt mich tagtäglich, doch meistens fällt es mir erst auf, wenn ich mich auf meine Stim-mung konzentriere. Ich entscheide mich für ein simples naja als Ant-wort. Das ist ziemlich nichts aussagend. Das ist mir egal. Ich sende die Nachricht und schaue auf mein Handy. Soll ich vorbeikommen? Für einen Moment bin ich perplex. Warum sollte ein Mädchen wie Anaïs das für mich tun? Ich bin das doch gar nicht wert. Ich realisiere, dass ich mich in einer Abwärtsspirale verfangen habe und kriege Angst. Angst vor mir selber. Angst vor der Welt. Ja, gerne, schreibe ich, während sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löst. Ich will jetzt nicht weinen. Hastig wische ich die Nässe weg und werfe wieder einen Blick auf den Chatverlauf mit Anaïs. Fünfzehn Minuten, dann bin ich da. Hast du mir deine Adresse? Ich schicke sie ihr und lege mein Telefon weg. Dann gehe ich nach unten, um meinem Vater Bescheid zu geben, dass noch eine Freundin vorbeikommt. Es ist erst sechs Uhr, also sollte es eigentlich okay für ihn sein. Gegessen haben wir schon, das kann er also nicht einwenden.

Genau vierzehn Minuten später klingelt es an unserer Haustür. Ich öffne sie und schaue in Anaïs Gesicht. Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich. Ich führe sie in mein Zimmer. Dort lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Anaïs legt wieder ihre Arme um mich und lässt mich einfach weinen. Sie weiss, dass ich das gerade brauche. Zärtlich streicht sie über meinen Kopf und flüstert mir ins Ohr, dass alles gut wird und dass sie da sei.

Als meine Tränen langsam versiegt sind, fragt Anaïs, ob ich dar-über reden will. Ich schüttle den Kopf. Sie legt sich neben mich ins Bett und umarmt mich fest. Eigentlich bin ich nicht so der Mensch für Umarmungen. Aber mit ihr fühlt es sich so richtig an.

Bis die Sonne untergehtWhere stories live. Discover now