Samstag, sechzehnter April

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Anaïs steht mit einem Blumenstrauss vor meiner Tür. Rosen und Margeriten sind darin primär vertreten. Ich spüre, wie sich eine Röte in meinem Gesicht und eine Verlegenheit in mir ausbreitet. Hastig ziehe ich sie hinein und küsse sie.

«Hör zu, ich weiss, dass das alles schnell geht und so, aber ich mag dich wirklich sehr», beginnt sie, «Willst du meine Freundin sein?» Sie lächelt mich unsicher an. Ich nicke, überwältigt von meinen Gefühlen für sie. Ich nehme sie in den Arm und küsse sie wieder, dieses Mal leidenschaftlicher. Wir gehen in mein Zimmer. Dort angekommen schliesse ich die Tür und drücke sie zögerlich dagegen, küsse sie im-mer weiter. Es ist, als würde sie in meinen Händen zerschmelzen. Sie lacht und sieht mir tief in die Augen. Dann drückt sie mich und wirft mich aufs Bett, setzt sich auf mich und beginnt, meinen Hals zu küssen. Mir war nicht bewusst, wie sehr ich sie will. Plötzlich ist alles andere unwichtig, ich ziehe sie näher zu mir und führe ihre Hand an meine nackte Taille. Sie schiebt mein Shirt langsam hoch und streichelt meinen Rücken. Ich könnte mir gerade nichts schöneres vorstellen.

Aber aus dem Nichts überkommt mich Panik. Mein Atem verschnellert sich, Tränen kullern über meine Wangen. Anaïs ver-schwimmt vor meinen Augen, mein Körper verkrampft sich. Anaïs beruhigende Worte erreichen mich nicht, ich bin in mir selbst gefangen, es fühlt sich an, als würde dieser Zustand niemals enden. Ich will schreien aber kein Ton kommt raus, glaube ich zumindest. Wild beginne ich an meinem Arm zu kratzen, irgendetwas um mich zurück in die Realität zu holen, er ist nicht da, er kann mich nicht mehr anfassen, er kann mir nichts mehr tun, und doch spüre ich überall seine Hände, überall wo ich sie nicht will. Er ist mein Exfreund, er hat mich angefasst, als ich es nicht wollte, hat mit mir geschlafen, als ich es nicht wollte, hat mein nein nicht akzeptiert, konnte nicht mit einem einfachen Nein umgehen, wollte seinen Kopf durchstieren, wollte sich nehmen, was er wollte, hat sich genommen, was er wollte. Ich muss Anaïs davon erzählen. Anaïs. Anaïs ist da. Sie sollte mich nicht so sehen. Sie soll nicht wissen, wie kaputt ich bin. Sie kann nicht mit mir zusammen sein, ich werde sie in den Untergang ziehen. Nein, nein, nein. Anaïs, ich muss für Anaïs zurückkommen, mich beruhigen, er ist nicht da, er wird nie wieder da sein.

Langsam komme ich wieder zur Ruhe. Auf Anaïs Gesicht liegt ein vorsichtiges Lächeln und sie streckt fragend die Arme aus. Ich lege mich hinein und weine still weiter. «Es ist alles gut, ich bin hier, ich gehe nirgendwo hin», flüstert sie mir ins Ohr. «Ich bin nicht gut für dich», wimmere ich. Gespielt schockiert sieht sie mich an. «Das entscheide ja wohl immer noch ich», sagt sie und lacht – was mich wiederum auch zum Lachen bringt, obwohl mir überhaupt nicht danach ist. Anaïs wird nirgendwo hin gehen. Sie wird bei mir bleiben, egal was ist.

Wir liegen eng aneinander gekuschelt im Bett und hören Musik von ihrem Handy. Ich will ihr meine Geschichte erzählen. Meine Ge-schichte mit ihm. Also tue ich es. Stück für Stück offenbare ich mich. Sie hört aufmerksam zu, ich erzähle, wie er mich berührt hat, wie er mit mir geschlafen hat, wie er mein Nein nicht akzeptierte. Ich erzähle alles, lasse nichts aus. Dass ich glaubte, dass was er tat nun mal zu einer Beziehung gehörte. Dass ich das alles wollen musste, weil ich seine Freundin war. Dass ich seither Angst vor jedem Mann habe, der mir nur ein bisschen zu nahe kommt. Ich weine, die ganze Zeit bahnen sich neue Tränen ihren Weg über meine Wangen hinab zu meinem Kinn. Anaïs hält mich fest, während ich erzähle, lässt mich nicht los. Ein bedrückter Ausdruck macht sich auf ihrem Gesicht breit.

«Du verdienst das nicht. Es war nicht deine Schuld», flüstert sie mir zu. Ich schüttle den Kopf. «Ich weiss. Aber manchmal »

«Es war nicht deine Schuld», erwidert sie, dieses Mal energischer. Ich akzeptiere es. Müde lehne ich meinen Kopf gegen ihre Schulter. Das alles zu erzählen hat mich erschöpft. Plötzlich verspüre ich das Verlangen nach einer Zigarette. Ich gehe mit Anaïs nach draussen. Sie zündet sich auch eine an. Ich wusste nicht, dass sie raucht. Es stört mich nicht. Darf es ja nicht, schliesslich rauche ich selbst. Aber ich will nicht, dass ihre Lungen kaputtgehen. Bei mir ist das etwas anderes, ich rauche, um zu sterben. Ich frage sie, warum sie begonnen hat.

«Gruppenzwang, um ehrlich zu sein. Meine ganze Freundesgruppe rauchte und ich konnte nicht widerstehen. Dann bin ich nicht mehr davon weggekommen.» Sie lacht. Vermutlich der häufigste Grund, warum Menschen mit diesem Unsinn anfangen. Ich lache auch. Es ist ihre Entscheidung. Ich habe da nicht mitzureden.

Wir rauchen im Stillen. Ich geniesse jeden Zug der Zigarette, die mich näher zu meinem Tod bringt. Ich geniesse das kratzende Gefühl, das der Rauch in meinem Hals hervorbringt. Ich geniesse die tiefen Atemzüge. Ich geniesse jede einzelne Sekunde davon.

Anaïs und ich gehen wieder ins Haus. Mein Vater hat gekocht. Es gibt Spaghetti Bolognese. Eigentlich hasse ich alles, was im Entfern-testen mit Tomaten zu tun hat, aber die Sauce meines Vaters mag ich. Wir setzen uns zu Annika an den Tisch. Annika beginnt sofort ein Gespräch mit Anaïs. Sie fragt sie komplett aus. Woher sie komme, wie sie sich die Haare so toll gefärbt habe? Wie alt sie sei, welches Sternzeichen sie habe? Anaïs beantwortet ihre Fragen geduldig. Ob was mit mir laufe? Bei dieser schaut Anaïs mich fragend an. Ich nicke – und werde schon wieder rot.

«Ganz ehrlich? Wir sind offiziell zusammen.»

Annika quiekt und lacht. Sie freut sich sichtlich über diese Entwicklung. So wie ich mich auch. Wir essen und reden über alles Mögliche. Wir lachen und kichern viel. Ich liebe es, wie gut Anaïs sich mit meiner Familie versteht. Ich liebe es, dass Annika Anaïs auch mag.

Bis die Sonne untergehtWhere stories live. Discover now