Ich spürte, wie das kalte Wasser zwischen meine Finger rann. Meine Finger waren eiskalt, doch das war nicht der Grund dafür, warum ich erstarrt war.
Reiß dich zusammen!
Einen Wimpernschlag später spritzte ich mir das Wasser ins Gesicht, was mich endlich in die Gegenwart zurückholte.
Endlich konnte ich wieder klarer denken.
Warum war ich so komisch drauf? Es gab dafür keine plausible Erklärung. Ja, heute war die Auswahl, aber es war glasklar, dass ich aufgenommen wurde. Als Junge hätte ich womöglich bangen müssen, doch mit meinem Geschlecht – auch was meine Abstammung betraf – gab es keine andere Alternative, als auserwählt zu werden.
Es kam selten vor, dass zwei Elementarier sich finden, heiraten und ein gemeinsames Kind bekommen. Alles drei unmögliche Komponenten, die es doch in meine Gene geschafft haben. Ich war das Wunderkind schlechthin – doch genau da lag das Problem.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch nicht die Auserwählte sein würde, wäre meine Zukunft ruiniert. Es wäre schon schlimm genug, wenn beide meiner Elternteile keine Elementarier wären. Wenn ein Mädchen nicht genommen wird, ist dessen Zukunft für immer zerstört. Wird für immer alleine leben, ohne Ehemann, ohne Kinder, ohne Arbeit.
„Adia, wolltest du dich nicht noch mit den anderen treffen?"
Klar, die anderen.
Ausnahmsweise war ich meiner Mutter dankbar, dass sie mich in die Wirklichkeit zurückholte, sonst hätte ich noch komische Dinge mit den Badfliesen und meinem Kopf angestellt – das war sicher.
„Bin schon fertig!", rief ich, schnappte mir im Flur meinen Rucksack, stürzte die Treppe hinab und verließ ohne eine Verabschiedung unser Haus.
Es war nicht weit zu Shayennes Haus, aber weit genug, dass ich erneut meinen Gedanken ausgesetzt wurde.
Mein perfektes Leben war schon immer perfekt – wieso sollte diese Perfektion plötzlich aus dem Ruder laufen? Es gab noch nie ein unvorhersehbares Ereignis in meinem Lebenslauf.
Ich sollte mich auf den heutigen Tag freuen. Ein weiterer Punkt auf meiner To-Do-Liste zum perfekten Dasein wäre erledigt. Wieso war ich trotzdem nervös?
„Hey, Addy!" Erschrocken blieb ich stehen. Wer hatte meinen Namen gerufen? Die Stimme kam mir bekannt vor, trotzdem konnte ich sie niemandem zuordnen.
Ich erkannte die Person erst, als sie vor mir stehenblieb und kläglich versuchte, einen coolen Eindruck zu machen – die Folge davon war, dass er steif, und doch um Lässigkeit bemüht, mit verschränkten Armen und den Kopf leicht neigend, sich vor mich aufbaute.
„H-Henry? Wieso sprichst du mich an?"
Würden meine Eltern sehen, dass ich Kontakt zu diesem Objekt hätte, würden sie mich augenblicklich enterben, das stand fest. Ich blickte hinter meine Schulter und schätzte ab, ob meine Eltern uns rein theoretisch vom Fenster aus sehen könnten.
„Na, heute ist der Tag. Der Tag, an dem alle sehen werden, dass ich euch doch ähnlicher bin, als ihr glaubt."
Der spinnte doch! Dachte er ernsthaft, er würde zu den Auserwählten gehören? Henry war an sich schon speziell, doch selbst wenn man dies außen vor lassen würde ... ein Junge, der zu den Auserwählten gehört? – Das passierte vielleicht in einem von tausend Fällen!
„Cool", zeigte ich ihm meine kalte Schulter. „Und deswegen sprichst du mich an?"
„Ich dachte, du würdest nachhaken, woher ich das so genau weiß", beschwerte Henry sich.
„Okay, du hast Wahnvorstellungen, freut mich für dich, aber jetzt geh mir aus dem Weg!" Weniger forsch fügte ich hinzu: „Ich habe es eilig."
Doch Henry dachte gar nicht daran, das Gespräch zu beenden: „Mit den Wahnvorstellungen liegst du goldrichtig!"
Was, er gab zu, verrückt zu sein?
„Addy, du musst mir glauben: Ich hatte eine Vision! Du kennst dich auf dem Gebiet doch aus, nicht wahr? Kannst du mir helfen, die Vision zu entschlüsseln?"
Was? Er sollte eine Vision gehabt haben? Er war eindeutig auf den Kopf gefallen!
Aber ja, wenn er die Wahrheit sagte – was er offensichtlich nicht tat – würde ich verstehen, warum er mich ansprach. Es war kein Geheimnis, dass ich durch meine besonderen Gene eine einzigartige Kraft entwickelt hatte; ebenfalls ein Grund, warum es offensichtlich war, dass ich auch eine Elementarierin werden würde.
„Dafür habe ich keine Zeit", antwortete ich wirsch. „Wenn du wirklich zu den Auserwählten gehörst, werden wir auf der Reise genug Zeit zum Quatschen haben über ... deine Vision."
„Da hast du natürlich Recht. Ach, ich bin so aufgeregt! Und diese Vision lässt mich nun auch nicht in Ruhe. Ich konnte heute kein Auge zumachen, habe mich ständig von der einen Seite zur anderen gewälzt ..."
Ich hörte Henry gar nicht mehr zu. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Person wahr, die schnurstracks auf uns zulief. Henry war vollkommen in seinem Redeschwall versunken, dass er die Person erst bemerkte, als diese ihn wegschubste, dass er auf den Boden taumelte.
„Was belästigst du meine Freundin?!", fauchte der Typ Henry an.
Noch nie war ich so dankbar, Grey vor mir stehen zu sehen. Wir waren seit einer halben Ewigkeit zusammen. Erst, weil unsere Eltern uns dazu gezwungen hatten, doch mit der Zeit hatten sich zwischen uns echte Gefühle entwickelt; zumindest galt dies für mich und Grey beteuerte mir dies immer wieder.
„Schlimm genug, dass dieser Abschaum sich im selben Klassenraum wie wir aufhalten darf. Sein Stipendium wird ihn nicht vor der Arbeitslosigkeit bewahren können."
Ugh, Lauris war auch hier. Aber klar, die Clique hielt immer zusammen. War schon eigenartig genug, dass sie nicht vollzählig waren.
Henry hatte sich aufgerappelt und konnte sich diesen Konter nicht verkneifen: „Mein Stipendium vielleicht nicht, aber meine Kräfte schon."
Lauris blickte Grey an, der Lauris anblickte. Man sah ihnen an, dass sie mit solch einer Aussage nicht gerechnet hatten. Grey konnte sich als erster fangen: „Willst du damit andeuten, zu den Auserwählten zu gehören?" Er konnte sich das Lachen schwer verkneifen.
„Ich werde den Moment genießen, wie ungläubig ihr schauen werdet, wenn mein Name aufgerufen wird."
„O Mann, hast du zu viel Klebstoff gerochen? Hat dir Mamilein nicht gesagt, dass das schädlich für dein Gehirn ist?"
Henry entgegnete nichts darauf, sondern begnügte sich damit, siegessicher zu lächeln.
„Der ist komplett durch", unterstützte Lauris seinen Freund. „Sieh dir allein seine Augenringe an. Vielleicht hat er Tollwut und steckt uns gleich an. Lasst uns lieber die Fliege machen!"
Das ließen wir uns nicht zwei Mal sagen.
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Wo das Feuer sein Licht verliert
FantasyIn einer Welt, in der die Erfolgschancen auf ein glückliches Leben allein davon abhängig sind, welche Elementarkraft man besitzt, fühlt Adia sich fehl am Platz und das, obwohl alle Hoffnung auf ihr liegen, die stärkste Elementarierin zu werden. Umso...