Die Stufen verschwimmen zu einem endlosen grauen Band, und obwohl ich weder eine direkte Farbe noch grobe Konturen erkennen kann, renne ich immer weiter unbeirrt die Treppe hinunter.
Mein Atem geht stoßweise und ich spüre, wie meine Tasche aus meinen verschwitzten Händen gleitet. Mit letzter Kraft und zusammengebissenen Zähnen versuche ich, sie doch noch festzuhalten, während ich mich mit der anderen am Geländer abstütze, um nicht wieder wie ein Tennisball nach unten zu kullern.
Was werden sie nur von mir denken!
Zu spät, und das gleich in der ersten Stunde mit einem neuen Lehrer.
Zu spät, zu verschwitzt und mit einer zu zerknitterten Bluse und einem zu ungebundenen Schnürsenkel.
Am liebsten hätte ich die erste Stunde geschwänzt, ich habe sogar wirklich darüber nachgedacht und tue es noch immer, aber anständige Menschen schwänzen nicht.
Anständige Menschen sagen immer die Wahrheit, lügen nicht einmal zur Not und auch nicht zum Schutz der Gefühle andere.
Die Bahn war zu spät gewesen, weil zwei jüngere Schüler ihre Fahrkarten daheim liegen gelassen und gehofft hatten, damit durchzukommen.
Dafür kann ich nichts.
Das ist nicht meine Schuld.
Und basta.
Ich lasse meine Tasche nun doch fallen, als ich über die letzte Stufe stolpere und unsanft auf den Knien aufkomme. Noch immer schwer atmend bleibe ich kurz an das Geländer gelehnt sitzen und betrachte das Chaos, das ich vor mir auf dem Boden angerichtet habe.
Großartig.
Einfach großartig.
Mein Mathehefter liegt aufgeschlagen auf dem Boden. Dort, wo er aufgekommen ist sind die Blätter zerknittert, ebenso die Seiten meines Geschichtsbuches, dessen aufgebrochener Rücken zur Decke zeigt.
Stöhnend stopfe ich den Hefter zurück, wo er hingehört, und dabei ist es ist mir egal, dass die blaue Vorderseite einreißt und die abgeknickten Ecken endgültig den Geist aufgeben und sich vom Rest des Blattes lösen. Das Geschichtsbuch nehme ich in die Hand; eigentlich wollte ich es zum Spint bringen, aber da dieser Gang mich wieder zurück in den ersten Stock schicken und mich somit noch mehr unnötig Zeit kosten würde, beschließe ich einfach, es mitzunehmen und später wegzuschaffen.
Suchend blicke ich mich während des Aufrichtens um, ob nicht doch noch irgendwo eine Patrone auf dem Boden herumkullert, oder ob irgendeine Karteikarte sich in einem Blumentopf verirrt hat.
Ich bücke mich, als ich meinen Schlüssel finde, der ein Stück weit von mir weggerutscht ist, den ich aber wegen des lauten Knalls, den meine Knie auf den Boden verursacht haben, nicht fallen gehört habe.
Sofort hängen mir die Haare ins Gesicht und meine Tasche rutscht so unsanft nach vorne, dass ich ihr fast nachfolge und erneut auf dem Boden lande. Ächzend schiebe ich sie erneut hinter den Rücken, streiche mir die Haare dorthin zurück, wo sie hingehören und biege in den Gang zu meiner Rechten ab.
Obwohl es August und eigentlich noch warm ist, zittere ich.
Ich hasse diese Zeit im Jahr, denn morgens ist es kalt genug für eine gefütterte Winterjacke, nachmittags aber hochsommerlich warm. Zieht man sich also am Morgen einen dicken Pulli an, holt man sich am Nachmittag den Tod, zumindest, so lange man nicht unsere Schule besucht.
Die Gänge in dem alten Gebäude, das mit den spitzen Türmchen eher einem Schloss ähnelt, sind kaum breit genug, dass zwei Menschen nebeneinander auf ihnen umherwandern können, schon gar nicht dann, wenn einem Gegenverkehr entgegenkommt, der die Situation nur verkompliziert.
Außerdem fehlen Fenster.
Wo die Flure schmal und dunkel sind, sind die Räume nicht minder klein und eher beengend und obwohl es nur Sekunden dauert, um unsere Schule bei geöffneten Fenstern und Türen in einen Kühlschrank zu verwandeln, braucht es ganze drei Tage, bis in ihnen wieder eine angenehmere Temperatur herrscht, bei der man nicht in Daunenjacke und dem gestrickten Schall von Oma herumsitzen muss.
Also lohnt es sich bei uns doch, sich wärmer anzuziehen, zumal irgendwann einmal jemand auf die tolle Idee kam, unsere Schule in einem Wald zu bauen und somit dafür zu sorgen, dass die Temperatur es nie über dreißig Grad schafft.
Man gewöhnt sich daran.
Also eigentlich tut man das nicht, auch, wenn wir uns das immer wieder gerne einreden.Während ich den schmalen Gang im dritten Stock entlanggehe, versuche ich noch immer, meinen Atem in den Griff zu bekommen, um nicht wie ein tollwütiger Gorilla in den Klassenraum platzen zu müssen.
Ich genieße den kurzen Moment der Stille, in dem keine kleinen Kinder umherrennen, und bleibe kurz vor der Tür zu meinem Matheraum stehen, um die letzten Sekunden des Tages ohne Kopfschmerzen auszukosten.
Vorsichtig klopfe ich.
Als ich selbst zu den jüngeren Schülern gehörte, habe ich immer so zaghaft an die Tür gepocht, dass es nie irgendjemand gehört hat, aber im Laufe der Jahre, denke ich, habe ich endlich ein passendes Mittelmaß gefunden.
Nicht zu leise, um überhört zu werden.
Nicht zu laut, um nicht respektlos zu wirken.
Nicht zu kurz, um nicht als etwas anderes, sondern als Klopfen wahrgenommen zu werden und nicht zu lange, um nicht aufdringlich zu wirken.
Tatsächlich ergibt das drei kurze Schläge gegen die Tür, und auch nur, mit den Zeigefinger – niemals mit der ganzen Hand.
Dabei betrachte ich meine Finger.
Entsetzlich.
Wenn es eine Sache an mir gibt, die ich überhaupt nicht leiden kann und die ich gerne loswerden oder eintauschen würde, dann sind das meine Finger.
Eingerissen, aufgesprungen, die Nägel zu kurz und die Fingerkuppen zu rot.
Kreidestauballergie und Nervosität.
Wundervoll.
Meine Nervosität entsteht nicht etwa aus einem Mangel an Selbstbewusstsein, ganz im Gegenteil, eigentlich ist sie der Tatsache zu verschulden, dass ich generell nie stillhalten kann. Ich bin immer in Bewegung, stillsitzen kommt dabei nicht in Frage, und wenn ich doch gezwungen bin, einmal in meinem Leben stillzuhalten, leiden meine Fingernägel darunter. Schule trägt nicht minder dazu bei.
Stundenlang auf einem Stuhl sitzen und etwas lernen, dass ich schon längst kann, oder innerhalb von Sekunden verstehe, während der Raum von dem Rauch, der meinen Mitschülern aus den Köpfen steigt, immer undurchsichtiger wird.
„Ja", ertönt es von der anderen Seite der Tür und ich trete ein. Meine ganze Klasse sitzt in einem gewaltigen und unübersichtlichen Haufen in der Ecke hinter der Tür und beachtet mich, abgesehen von ein paar kurz auf mir liegenden Blicken, eher weniger. Ich bin jetzt da, vielleicht ein wenig spät, Haken dran.
Was für ein jämmerlicher Haufen Wichtigtuer und Intriganten!
Ich schaffe es, wenn auch nur mit Überwindung, von einem Augenrollen oder Seufzen abzulassen und schleppe mich stattdessen schweigend zu meinem Platz. Erst nach einer Weile, wie ich zugeben muss, fällt mir auf, dass ich nicht die einzige bin, die zu spät ist.
Wo ist unser Mathelehrer?
Zuerst bin ich ein wenig entrüstet – wie kann ein Lehrer an unserer Schule zu spät zum Unterricht erscheinen - dann wird mir allerdings sehr schnell bewusst, dass mir eben diese Tatsache meinen schrecklichen Morgen vielleicht doch noch retten kann.
Also setze ich mich, lege Hefter und Buch ordentlich an die obere linke Ecke meines Tisches, schlage ein Bein über das andere und beginne, ein Buch zu lesen. Ein wenig Beherrschung kann man ja erwarten.
Ich linse, wenn auch nur vorsichtig, über die Seiten meines Buches und sehe mich im Raum um. Von meiner Ecke aus, in der man sich außerdem gut vor dem Blick des Lehrers verbergen kann, habe ich den ganzen Raum im Überblick. Keiner meiner mir ach so sehr ans Herz gewachsenen Klassenkameraden hat irgendetwas Schulisches ausgepackt, aber die Tatsache, dass alle anwesend sind, lässt mich ausschließen, dass unsere Stunde gestrichen wurde.
Neugierig versuche ich trotzdem herauszufinden, über was sie sprechen, werde allerdings bald abgelenkt, als sich Caroline auf den freien Platz neben mir fallen lässt.
„Die große Albertine Winter ist zu spät", spottet sie und fasst sich an die Brust, als hätte sie dieser Umstand schwer getroffen. Ich schnaube abwertend, lege meinen Arm allerdings auf die Lehre meines Stuhls, schenke ihr damit meine gesamte Aufmerksamkeit.
„Soll vorkommen", antworte ich ruhig, schlucke die Rechtfertigung, die mir auf der Zunge liegt, herunter. Die brauche ich hier nicht.
Ich lasse meinen Blick erneut durch den Raum schweifen. Meine Klassenkameraden verteilen sich auf ihren Plätzen und breiten ihre Schulsachen auf den Tischen aus. Diese Wirkung hat Caroline. Wenn sie geht, ist die Versammlung beendet.
Dafür erhalte ich von ihr Informationen, die für mich durch bloßes Zuhören und Zusehen schlichtweg nicht zugänglich wären.
Niemals ohne Gegenleistung, versteht sich, denn so läuft das hier. Sie wird am Ende dieser Woche etwas von mir einfordern, das ihrer Meinung nach dem Wert der Informationen entspricht, die ich von ihr erhalten habe. Ein Aufsatz, Mitschriften, ein Protokoll – irgendetwas für mich Minderwertiges.
Sie wird nicht zu mir kommen und sagen: „Albertine, schreib mir einen Aufsatz über das Sonett, das wir gerade behandeln."
Nein, das würde sie nicht tun – nicht, dass ich ihr das nicht zutrauen würde.
Sie wird bis zum Ende der Stunde warten, die für sie schwierigste Aufgabe heraussuchen und sagen: „Albertine, der Aufsatz ist ja so aufwendig, findest du nicht?"
Und dann weiß ich, was ich zu tun habe.
„Also", beginne ich, „Was genau werde ich im Laufe des Morgens noch erfahren?" Auf diese Weise teile ich Caroline mit, dass ihre Information wertlos ist. Die ganze Klasse scheint es zu wissen, was auch immer es auch ist, und wenn es alle wissen, erfahre ich es früher oder später sowieso. Eher früher als später.
Caroline greift in ihre Federmappe und zieht drei Kaugummis hervor, reicht eins davon an Aleks zu ihrer Rechten weiter.
Wie sind das Fußvolk, Aleks ist die Kammerzofe und wenn sie sich benimmt und brav die beste Freundin spielt, darf sie sich gelegentlich ihre Belohnung abholen.
Das zweite reicht sie an mich weiter, aber ich lehne ab. Obwohl ich ihr für die Information nichts schulden werde, will ich nicht dass sie am Ende der Woche zu mir kommt und sagt: „Albertine, ich war doch so nett zu dir!"
Sie gibt schlussendlich auf. „Wir bekommen eine Neue."
Nein.
Nein, bitte nicht.
Wir funktionieren so und ich nenne es funktionieren, weil es alles ist, was wir tun.
Wir sind eingespielt, wissen, wie wir aufeinander reagieren müssen und was wir unserer Umwelt vorzuspielen haben.
Wir wollen keine Neuen hier.
Das Kartenhäuschen ist gebaut, es hält, mehr nicht, und hat keine freien Plätze mehr, in die wir zusätzliche Mitschüler hineinstellen könnten.
Davor habe ich Angst.
Davor, dass wir den Zutritt verweigern und jemand unser sorgsam gebautes Häuschen einfach umfegt.
Vor meinem inneren Auge sehe ich die Karten fallen. Caroline sieht es auch.
Wir reden nicht darüber, müssen es nicht, um zu wissen, was wir beide denken.
Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. Das tue ich oft, wenn ich nachdenke und keine Antwort in Sicht ist. Wir können nichts tun.
Das ist die Antwort, die einzige Antwort, und sie gefällt mir nicht. Caroline ist das ebenfalls klar.
„Du", sagt sie. Ich weiß was sie will, ziehe dennoch fragend die Augenbrauen nach oben.
„Du musst es machen." Sie sieht weg, als sie das sagt. Ein bitte wird nicht kommen, das ist mir klar, denn es ist ihr schwer genug gefallen, mich überhaupt um einen Gefallen zu bitten. Es ist ein großer Gefallen.
Ein sehr großer.
Sie wird in meiner Schuld stehen, sie alle werden das tun und in meiner Schuld stehen sie nicht gerne.
Ich kann es verstehen. Aufsätze lasse ich nicht von anderen schreiben, Hausaufgaben lasse ich nicht von anderen lösen.
Sie erledigen es ja doch nicht zu meiner Zufriedenheit und ich würde alles noch einmal überarbeiten müssen, bis es mir zusagt.
Nein.
Meine Währung sind Informationen.
Über alles.
Über jeden.
Je nachdem, was mich gerade interessiert.
Davor haben sie Angst, das fürchten sie, denn keiner von ihnen ist sich sicher, wo mein Wissen anfängt und wo es aufhört. Unwissenheit schürt Sorgen und Sorgen schüren Angst.
Sie müssen keine Angst haben.
Ich bin nur neugierig.
Nur kann ich ihnen das so nicht sagen. Unser Konstrukt beruht auf dem Prinzip Verschwiegenheit. Würden wir offen über alles reden, entstünden Konflikte und das sorgsam errichtete Häuschen würde zerfallen. Also reden wir nicht, treffen Vereinbarungen stillschweigend und ich muss mich mit der Rolle, die ich spiele, abfinden.
Ich liebe meine Rolle.
Ich hasse sie umso mehr.
Wir sind eingespielt.
Wir müssen nicht reden.
Aber Caroline könnte einen Fehler gemacht haben.
Sie fragt für den Rest der Klasse, nicht nur für sich und ich bin mir sehr sicher, dass sie nicht um Erlaubnis gebeten hat. Viele hätten nicht zugestimmt, wären dagegen gewesen.
Trotzdem nicke ich, habe ja keine große Wahl, muss mir anschauen, mit wem ich es zu tun bekomme.
„Schmiedet ihr Mordkomplotte?" fragt Konstanze eine Reihe vor uns plötzlich und dreht sich auf ihrem Stuhl herum, lässt die Lehne gegen die Vorderseite meines Tisches kippen, während sie auf den hinteren beiden Stuhlbeinen balanciert.
Konstanze ist wahrscheinlich die einzige, die mir Informationen umsonst gibt, wenn auch nur Klitzekleine. Ich schätze sie sehr, das würde ich ihr gerne sagen.
„Ja", meint Caroline, „gegen unseren sehr verehrten Herrn Klassenlehrer, wenn er nicht bald auftaucht und den Unterricht macht, für den er bezahlt wird und für den ich mich heute Morgen aus dem Bett gequält habe." Sie betrachtet ihre Fingernägel, sieht eine Stelle, die ihr nicht gefällt, zieht eine Nagelpfeile aus der Tasche und macht sich an die Arbeit.
Konstanze sieht nun mich an.
Ich habe sie einmal gefragt, ob sie mich mögen würde. Eine mutige Frage, aber vor Konstanze hatte ich nie das Gefühl, etwas verheimlichen zu müssen.
„Ja", hatte sie gesagt, als wir auf dem Weg zur Turnhalle waren. „Ich mag dich. Du bist ehrlich, lügst nicht."
Wir waren allein gewesen, aber selbst in der Gruppe hätte sie das frei heraus gesagt, diese Worte, die für andere alltäglich sind, aber hier nur hinter hervorgehaltener Hand gesprochen werden. Hier gibt es kein Mögen.
„Und genau dafür mag ich dich auch nicht." Sie war stehengeblieben, hatte sich ihre Schnürsenkel neu gebunden und eine Erdkröte zurück an den Wegrand gesetzt.
Niemals habe ich jemanden so sehr geschätzt, wie sie in diesem Moment, für diese Worte.
An einem anderen Ort hätten wir uns sehr gut verstanden, denke ich.
Ich würde sie gerne fragen, was sie denkt, was sie tun würde, aber da wird die Tür aufgestoßen.
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Dear Julia
Novela JuvenilFür alles gibt es einen Moment. Einen Moment, um zu streiten, einen Moment um zu warten, sich auszuruhen, einen Moment zum Nachdenken und einen Moment für Entschuldigungen. Ein verpasster Moment kann eine verpasste Chance sein, aber vielleicht auc...