Mein liebes Schneeglöckchen

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Du mochtest jede Art von Blumen. Du züchtetest sie in deinem kleinen Garten, hinter unserer Hütte. Neben den Blumen wuchsen dort auch diverse Gemüse- und Früchtesorten, um die du dich ebenfalls kümmertest. Ich erinnere mich noch, du wolltest die reifen Früchte nie ernten. Du mochtest es, den Vögeln zuzusehen, wie sie deine Äpfel und Pflaumen assen. Oder wenn ein Maulwurf deinen Eisbergsalat klaute. Du warst einzigartig.

Meine erste Erinnerung mit dir war in der Oberstufe. Ich war eben erst in die Stadt gezogen und wurde von meinen Mitschülern gehänselt. Nicht dieses harmlose Necken, nein. Sie hassten mich. Sie zeigten mir jeden Tag, wie wertlos mein Leben war. Oft fantasierte ich über den Gedanken, was wohl wäre, wenn ich einfach verschwinden würde. Würden mich diese Kinder einfach vergessen? Würden sie sich schlecht fühlen? Ich weiss es bis heute nicht. Wir trafen uns das erste Mal auf dem Dach unserer Schule. Es war Schicksal. Wir beide hatten denselben Hintergrund, denselben Plan und dasselbe Ziel: Freiheit. Doch dein warmes Lächeln spendete mir Trost und Hoffnung. Dich gefunden zu haben war mein grösster und einziger Segen. An diesem Tag versprachen wir uns, füreinander weiterzuleben. Du warst wie ein zartes Schneeglöckchen, das erste Zeichen des Frühlings nach einem langen, harten Winter. Seitdem waren wir unzertrennlich. Jedenfalls dachte ich das.

Ich weiss, das alles klingt vielleicht übertrieben romantisiert. Jedoch waren das genau die Gefühle, die ich für dich verspürte. Verspürte? Nein. Ich empfinde immer noch exakt dieselben Gefühle, die ich damals gefühlt habe. Bei jedem kleinsten Vorfall warst du sofort da für mich. Fülltest mich mit deiner Wärme. Ich war ein verdammter Waschlappen, jetzt wo ich zurückdenke. Jedes Problem, jede Art von Kritik, alles zerstörte mich direkt. Ich war so sensibel und schwach, ohne dich hätte ich es definitiv nicht so weit geschafft.

Wir blieben immer zusammen. Wir gingen in dieselbe Schule, in das gleiche Gymnasium und studierten sogar an der gleichen Universität. Du wolltest immer Lehrerin werden. Das war schon von Beginn an dein Traum. Wieder etwas, worin wir uns grundlegend unterscheiden. Der Beruf passte zu dir. Du warst streng, aber auch geduldig und liebevoll. Ich hingegen wusste nie, was ich in meiner Zukunft machen wollte. Mein Leben war nur wegen dir überhaupt wertvoll genug, um es zu leben. Schlussendlich habe ich durch dich auch meine Leidenschaft fürs Schreiben gefunden. Immer wieder wolltest du, dass ich dir Gedichte und Geschichten schreibe. Dass ich dir meine besten und schlechtesten Ideen verrate. Du konntest mir konstruktive Kritik übermitteln, ohne meine Gefühle zu verletzten. Du wusstest, wie man mit mir umgehen muss, obwohl ich es selbst nicht wusste. Ach, auch heute könne ich ellenlange Gedichte über dich schreiben.

Irgendwann zogen wir dann zusammen. Wir konnten nicht genug voneinander kriegen. Nie gingen wir allein aus dem Haus, alles mussten wir im Team machen. Wir waren einfach perfekt füreinander abgestimmt. Während dem du dich nie an deine Termine erinnern konntest, habe ich immer unsere Woche geplant. Du warst emotional, ich war rational. Du warst realistisch und ich kreativ. Du warst extrovertiert, ich introvertiert. Es lief alles so gut. Wir haben mehr als die Hälfte unseres Lebens gemeinsam verbracht. Ich brauchte niemand anderen als dich, und du niemand anderen als mich. Wir hatten uns beide. War das nicht genug für dich?

Das Studentenleben war perfekt. Wir konnten uns gegenseitig in den Prüfungsphasen unterstützen. Ich hatte als Kind genug Geld von meinen Eltern geerbt, dass wir uns eine kleine Hütte in den Bergen kaufen konnten. Geldprobleme hatten wir deswegen auch nie. Wir verbrachten oft unser Wochenende dort oben. Während dem du dich um deine Pflanzen kümmertest, las ich. Wenn wir beide einen schlechten Tag hatten, lagen wir einfach nebeneinander. Wir mussten nicht reden. Wir wussten direkt, wie sich der andere fühlt. Wir verbrachten dort oben Stunden damit, Schach zu spielen oder das Feuer anzustarren.

Natürlich hatten wir auf unserem gemeinsamen Weg einige Hindernisse, die wir überwinden mussten. Toxische Menschen, die versucht haben, sich zwischen uns zu drängen. Es hatte nur Platz für dich und mich. Selbst deine Familie wollte, dass du mich verlässt. Zum Glück hast du nicht auf sie gehört. Du brauchtest sie nicht. Genau so wenig, wie ich meine Eltern brauche. Jedoch verwelken auch die robustesten Schneeglöckchen irgendwann. Nach dem Studium ging alles plötzlich bergab. Du wolltest wegziehen, im Ausland unterrichten. Plötzlich deine Umgebung verändern und andere Menschen kennenlernen. Ich konnte es nicht verstehen, ich verstehe es immer noch nicht. War dir denn das, was wir hatten, nicht genug? Zum Glück hattest du nicht genug Geld. Ich kann mir nicht vorstellen, was du getan hättest, wenn du nicht auch all dein Geld bereits in unsere Hütte gesteckt hättest. Ich bin so froh, dass du auf mich gehört hast. Ich war deine einzige Freundschaft. Deine einzige enge Beziehung. Wem sonst hättest du vertrauen können?

Trotzdem konntest du unsere perfekte Harmonie nicht sein lassen. Nein, du musstest dich verändern. Du fingst an, an der Schule in unserer Stadt zu unterrichten. Ich fand das zwar von Anfang an keine gute Idee, da dort auch Leute aus unserer alten Schule unterrichteten. Jedoch wollte ich dir deinen Traum nicht zerstören. Ach, wenn ich doch nur etwas gesagt hätte. Immer später warst du zuhause. «Überstunden» oder «Ich musste noch etwas vorbereiten». Alles lügen. Damals habe ich dir geglaubt, heute weiss ich, dass du mich verraten hattest. Deine Lügen wurden immer kreativer. «Ein Kind war krank. Ich musste warten, bis es abgeholt wurde.» Wir entfernten uns immer mehr, obwohl ich versuchte, unsere Beziehung aufrecht zu halten. Irgendwann habe ich dich konfrontiert. Ich wusste bereits, dass du wahrscheinlich in einer Beziehung warst. Aber mit diesem Abschaum?

Er hat dich mir weggenommen. Der, der mir früher das Leben zur Hölle gemacht hat. Er hat es sogar geschafft, dein Verhalten mir gegenüber zu verändern. Wir waren plötzlich so fern voneinander. Du hast angefangen, mich zu ignorieren. Seit wann wurde aus meinem Schneeglöckchen giftiger Efeu? Warum hattest du mir das nicht früher erzählt? Wie kannst du mir das nur antun? Die Stimmung bei uns zuhause war für die nächsten paar Wochen Eis kalt. Du verstandest nicht, warum mich das so sehr störte. War es nicht klar? Bedeutete dir unser Versprechen, dass wir nur füreinander existieren würden, denn gar nichts? Dieses Miststück hat uns alles versaut. Er hat mir alles versaut.

Wir hörten auf, in unsere Hütte zu gehen. Nein, er kam immer öfter in unsere Wohnung und du gingst immer öfter in seine. Ich dachte, du würdest noch zur Besinnung kommen. Ich wartete sogar Jahre. Jahre! So viel wertvolle Zeit, die ich mit dir hätte verbringen können, wurde mir von ihm geraubt! Ich weiss nicht, warum ich nicht früher etwas dagegen unternommen habe. Du sahst so glücklich aus. Ich wollte dir das wahrscheinlich nicht verderben, auch wenn du von unserem Weg abgekommen warst. Doch als du mir eines Tages anriefst und mir unter Freudentränen sagtest, dass ihr jetzt verlobt seid, war das Fass übergelaufen. Erst dann realisierte ich, dass ich dich bald für immer an ihn verlieren werde.

Also habe ich das getan, was ich tun musste. Ich hatte bereits den perfekten Plan. Ein letztes Mal in die Berge, bevor du etwas tun konntes, was du bis ins Jenseits bereuen würdest. Ein letztes Mal Zeit miteinander verbringen. Ein letztes Mal zusammen atmen. Er hat dich von unserem Weg abgebracht, ich habe dich wieder zurückgeführt. Wenn ich dich nicht haben konnte, dann niemand. Ich weiss, du vergibst mir. Du musst.

Keine Sorge. Ich werde bald zu dir stossen. Ich muss mich noch um ihn kümmern. Danach können wir endlich in Ruhe für alle Ewigkeiten zusammenbleiben. 

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⏰ Last updated: Jul 07, 2023 ⏰

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