Verhalten gähnte sie vor dem Computer, ließ die verspannten Schultern kreisen. Es war schon fast zwei Uhr morgens. Ernsthaft? 2 Uhr? Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Es war lange her, dass sie sich so in einem Chat amüsiert hatte. Der Abend war so schnell verflogen mit diesem Noodles, wer immer er war.
Für den Abend hatten sie sich wieder verabredet, Lia freute sich schon irgendwie darauf. Aber jetzt schaltete sie den Rechner erst einmal ab, war schließlich auch Zeit, endlich schlafen zu gehen. Den Lateinkurs an der Uni würde sie sausen lassen, das hatte sie sich schon vorgenommen. Vom Hocker rissen sie weder Professor Peters noch Cicero. Sie ging noch schnell ins Bad, putze sich die Zähne, versuchte ihre Wuschelmähne durchzukämmen, was natürlich mal wieder nicht gelang und kuschelte sich danach unter ihre Decke. Es dauerte auch nicht lange, bis Lia eingeschlafen war."Blöder Wecker." brummelte sie noch fast im Halbschlaf, als dessen Piepsen sie am nächsten Morgen, nach der, ihrer Meinung nach, viel zu kurzen Nacht aus ihren Träumen riss. Ihre Augen wollten gar nicht offen bleiben, noch ganz verschlafen tappte sie in die Miniküche, um den Wasserkocher anzustellen und sich einen Tee zu machen. Irgendwo hatte sie auch noch Toast, aber wo? Und während sie so in ihrem Schrank suchte, fiel ihr mal wieder ein, dass sie auch einkaufen müsste, der Kühlschrank sah ziemlich leer aus. Was immer häufiger geschah, seit ihre Mitbewohnerin ausgezogen war, weil die nun endlich ihr Studium beendet hatte. Jetzt musste sich Lia allein um die alltäglichen Dinge kümmern, was leider all zu oft auf der Strecke blieb. Als sie nach einer Stunde endlich gefrühstückt hatte, angezogen war und sich ein wenig zurechtgemacht hatte, fühlte sie sich munter genug, um sich aus dem Haus zu wagen.
Auf dem Weg zur Straßenbahn klingelte ihr Handy.
Fine meldete sich: "Hey, sag mal wo bleibst du denn? Lässt du dich heute überhaupt noch mal blicken, war ja schon gemein, mich bei Peters allein sitzen zu lassen, tu mir das nicht auch noch in chinesische Geschichte an."
Das war mal wieder typisch Fine - reden, wie ein Wasserfall, man kam fast nie zu Wort.
"Ich bin ja schon auf dem Weg." antwortete Lia.
"War nur etwas spät gestern und heute früh kam ich nicht aus dem Bett. Hab ich in Latein was verpasst?"
"Kann man in Latein bei Cicero was verpassen? Also beeile dich, ich halt dir 'nen Platz frei. Ciao." Mist. Hatte Lia für einen kurzen Moment darüber nachgedacht, sich auch die nächste Vorlesung zu schenken, kam das jetzt nicht mehr in Frage. Wenn sie nicht zur Vorlesung erschien, würde garantiert das Handy gleich wieder klingeln. Aber es war auch gut so, Fine passte auf, dass Lia nicht zu viel verpasste. Außerdem war chinesische Geschichte gar nicht so schlimm, zumindest nicht für ihr Empfinden. Fine dachte anders darüber, aber so ergänzten sie sich wenigstens, denn Latein war nun mal gar nicht nach Lias Geschmack. Sie konnte auch nicht richtig nachvollziehen, warum das beim Sinologiestudium verlangt wurde. Für Sprachwissenschaften, ihrem Nebenfach, okay, das sah sie ein. Aber Sinologie? Da gab es keinerlei Gemeinsamkeiten, nicht mal die Schriftzeichen sahen ähnlich aus.
"Na endlich, wo steckst du denn so lange? Du wolltest wohl heute wieder durch Abwesenheit glänzen? Dein Glück, dass der Professor keine Anwesenheitsliste führt, sonst wärst bestimmt schon raus aus dem Kurs."
Mit einem breiten Grinsen räumte Fine den Stuhl neben sich leer. Wenn man hier nicht schnell genug war, musste man in dem stets überfüllten Hörsaal mit der unbequemen Treppe vorlieb nehmen. Oder man ging, um dann das Argument, dass man keinen Platz mehr bekommen habe, als Ausrede anbringen zu können. Aber so richtig interessierte sich eh niemand dafür, ob man zur Vorlesung erschien oder nicht, so lange man die Prüfung am Semesterende bestand. Und bis jetzt hatte Lia keine Probleme gehabt.
"So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht." erwiderte sie daher auf Fines Bemerkung. „Hab ja erst dreimal gefehlt. Kenn mich aber trotzdem aus, mit den Qin und den Han und den Wu, habe sogar den Gernet – Text durchgearbeitet, trotz meiner knapp bemessenen Zeit. Und wie steht es mit dir?"
"Streber." antwortete Fine, bevor beide anfingen, zu kichern.
Sie studierten jetzt schon ein Jahr zusammen und verstanden sich prima. Sie saßen in der ersten Vorlesung nebeneinander und merkten recht schnell, dass sie zwei sich gesucht und gefunden hatten. Inzwischen konnte sich eine auf die andere verlassen, was die eine nicht wusste, beherrschte die andere.
"Bin ja gespannt, was er uns heute wieder so zu berichten weiß, der Professor über seine guten alten Chinesen, über Geschenkpolitik und Seidenhandel." lästerte Fine.
"Essen wir dann zusammen? Klang gar nicht so schlecht, was heute die Mensa so anbietet, vorausgesetzt man steht auf Kohlrabischnitzel."
"Na ja, besser als kalte Küche, und McDonalds wird auf Dauer auch zu teuer. Aber lass uns erst mal die anderthalb Stunden hinter uns bringen."
Allerdings wollte die Zeit nicht so schnell vergehen. Fine schaute während der Vorlesung völlig verständnislos drein - Geschenke zu einer politischen Methode zu erheben, um bei Feinden Streitigkeiten auszulösen, das wollte ihr nicht in den Kopf. Naja, vielleicht würde sie das schon noch begreifen, und zur Not hatte sie ja noch Lia. Doch auch die war völlig abwesend, hatte ihren Kopf auf die linke Hand gestützt und klopfte gedankenverloren mit dem Bleistift auf ihren Block. Dieser Noodles ging ihr irgendwie nicht aus dem Kopf, sie wusste noch nicht mal, wie er mit richtigem Namen hieß. Aber das würde sie ihn heute Abend gleich mal fragen.
"Psst" zischte jemand in den vorderen Reihen und nach einer Weile räusperte sich auch der Professor, den die Nebengeräusche wirklich störten.
"Wenn sie das heute nicht so interessiert," er sah direkt zu Lia, "können sie gerne gehen, doch wenn sie sich entschließen, zu bleiben, dann stören sie bitte nicht."
Damit wandte er sich wieder dem Thema zu.
"Hey, hörst du überhaupt zu?" Unsanft stieß Fine Lia in die Rippen.
"Koeppen rügt dich, und du reagierst nicht mal, wo bist du denn gerade unterwegs?"
"Hm was? Ich war gerade in Gedanken, hab ich was verpasst?"
Fine schüttelte den Kopf.
"Sag mal, was ist denn mit dir heute los, du bist ja völlig neben der Spur. Gibt es einen besonderen Grund dafür?"
"Erzähl ich dir dann in der Mensa, okay?" flüsterte Lia, denn erneut ernteten sie böse Blicke.
Die verbleibende halbe Stunde konzentrierten sich beide, um wenigstens etwas von dieser Vorlesung mitzubekommen. Schließlich war es für beide ein Prüfungsfach und bis zu den Prüfungen war nicht mehr allzu viel Zeit. Aber gemeinsam würden sie es schon schaffen, ging ja bisher immer alles gut, meistens hatten sie zusammen gelernt. Und zusammen bestanden."So, nun erzähl mal, was ist so aufregend, dass es sich lohnt, eine Vorlesung zu verträumen? Will Mark dich heiraten?" fragte Fine neugierig.
Lia, die schon wieder gedankenverloren in ihrem Cappuccino gerührt hatte, blickte auf.
"Mark? Nein, ganz sicher nicht, würde mich wirklich wundern, wenn er auf diese Idee kommen würde. So wie der zur Zeit drauf ist, frage ich mich manchmal, ob es mit uns beiden überhaupt noch Sinn hat."
"Ist es denn wirklich so schlimm? Es kriselt doch immer mal in einer Beziehung." Ungläubig schaute Fine Lia an.
"Es kriselt bei uns nicht immer mal, sondern ständig, nichts mache ich ihm recht, alles ist verkehrt, da verliert man doch völlig die Lust. Inzwischen freue ich mich immer richtig, wenn ich von zu Hause weg und mich wieder mit vernünftigen Menschen unterhalten kann."
"Genau. Manchmal chatte ich auch, da hab ich keine Verpflichtung, niemand hat ständig schlechte Laune und wenn ich keine Lust mehr hab, klinke ich mich aus. Anfangs hab ich nicht gedacht, dass man sich da wirklich gut unterhalten kann." Lia stand auf, um die Tassen wegzubringen, doch Fine hielt sie zurück.
"Na ja, aber das ist doch kein Grund, um in der Vorlesung so zu dösen, du warst ja völlig weggetreten. Da gibt es doch sicher jemanden bestimmten, oder?"
Lia begann zu lächeln.
"Ja, kann schon sein, habe gestern Abend viel Spaß gehabt, und es tut gut, wenn man mal wieder ein paar Komplimente hört, auch wenn sie nur übers Internet kommen."
"Er muss es dir aber ganz schön angetan haben, wenn du heute gleich so abwesend bist. Aber du kennst ihn doch gar nicht, du unterhältst dich doch nur übers Internet mit ihm, woher willst du denn wissen, dass er nicht irgend so ein Freak ist, eine verkappte Existenz?"
Vom Chatten hielt Fine nicht allzu viel. Die Realität war ihr lieber, da hatte sie ein Gegenüber, das sie sehen konnte, wenn sie sich mit ihm unterhielt.
"Ich will ihn doch nicht heiraten. Ich habe lediglich gesagt, dass er sehr nett zu sein scheint und es schön war, sich mit ihm zu unterhalten. Ja und vielleicht hat mich seine Art zu schreiben beeindruckt. Er war nicht so vulgär wie viele, die nur auf Cybersex aus sind. Ich frage mich sowieso, wie man dem was abgewinnen kann. Und vielleicht lerne ich ihn besser kennen, wenn wir noch ein paar Mal miteinander chatten. Sollte er mir auf den Keks gehen, kann ich immer noch aufhören. So und nun komm, die Vorlesung fängt gleich an."
Lia zog Fine vom Stuhl hoch und hakte sich bei ihr unter. Auch wenn Fine nicht viel vom Chatten hielt, war sie doch zu Lias bester Freundin geworden, und die konnte kein Internet und kein Cyberspace jemals ersetzen. Real war real. Und wenn es darauf ankam, konnten sie gegenseitig auf sich zählen. Lia hatte Fine sehr geholfen, nachdem die sich von ihrem Freund getrennt hatte und inzwischen war Fine der Meinung, dass ein Freund für sie momentan nicht in Frage kam. Erst einmal wollte sie in aller Ruhe ihr Studium beenden, dann einen Job finden und mal sehen, wo es sie hin verschlagen würde. Dann war immer noch Zeit, sich einen Freund zu suchen. Ganz im Gegensatz zu Lia. Sie versuchte immer alles unter einen Hut zu kriegen, was sich jedoch nicht immer als einfach erwies, wie es sich in ihrer derzeitigen Situation zeigte. Die Woche über zum Studium, freitags nach Hause zu ihrem Freund, der dann nicht immer bestens gelaunt war. Lia versuchte, das Wochenende so angenehm wie möglich zu gestalten, damit sie sich wohl fühlten, aber Mark war so missmutig in letzter Zeit und so unzufrieden, dass Lia das nach Hause fahren langsam verging. Oft überlegte sie, ob sie das nicht vielleicht endlich mal tun sollte, aber in einer Ecke ihres Herzens liebte sie Mark noch und hoffte immer, dass sich das bald wieder ändern würde. Doch jedes Wochenende wurde sie aufs Neue enttäuscht. Ein „Ich liebe dich." hatte sie schon lange nicht mehr gehört und so war es nur allzu verständlich, dass sie sich über Komplimente im Internet freute.
Wer weiß, vielleicht bekam sie ja in ein paar Stunden wieder welche?
Doch vorher musste sie noch eine Vorlesung hinter sich bringen und unbedingt ihren Kühlschrank auffüllen.
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Verliebt in einen Unbekannten
RomanceSich in einen Menschen zu verlieben, den man nur vom Schreiben kennt? Unmöglich! sagt sich Lia. Doch genau das passiert der jungen Studentin. Anfangs findet sie in diesem Noodles, eigentlich Oliver, nur einen Freund, doch schon bald fühlen beide meh...