Ich war Medizinstudentin, Praktikantin in der chirurgischen Notaufnahme und wir saßen im Arztzimmer, der Assistent und ich, er schrieb einen Brief und ich trank den vierten Kaffee und langweilte mich etwas. Den ganzen Nachmittag schon versuchte ich, mich nicht vom Zynismus des Anderen anstecken zu lassen, der generell erstmal nichts als seine Zuständigkeit sah, jede*n als Bittsteller wahrnahm, der ihm seine Zeit stehlen wollte.
Das Telefon klingelte, und es meldete sich jener Psychiater, der nach einem Zuständigkeits-Streit am Vortag recht weit unten auf der Favoritenliste des jungen Chirurgen stand. Die Augen verdrehend wurde der Störer auf laut gestellt, damit er weiter tippen konnte:
"Was macht ihr, wenn sich ein Patient den Mund zugenäht hat?"
Seufzen, ungläubiger Blick und dann die knappe Antwort des Chirurgen: "Ist das ein chirurgisches Problem?"
Das Rauschen der Leitung und dann zögerlich der Psychiater: "Nein... also ja, also wir hatten das noch nie..."
"Ja wenn ihr damit nicht klar kommt, schickt ihn halt rüber."
"Also können wir ihn auch einfach hier wieder aufschneiden?"
"Da kann ich jetzt keine Ferndiagnose stellen, aber wie Sie gestern ja so treffend gesagt haben, haben wir ja alle eine Grundausbildung genossen."
"Okay."
Wütendes Klicken, als der Anruf beendet wurde, dann ein aufbrausender Monolog des Chirurgen, der sich über seinen Kollegen beschwerte. Wenn der nämlich nicht mit jedem Patienten quatschen wolle, könne er ja auch genau so gut mal selber eine Schere zur Hand nehmen. Ich dachte an die junge Patientin vom Vortag, mit der man nicht hatte quatschen wollen und den kranken Mann, mit dem zugenähten Mund, auf dessen Rücken dieser Streit weiter ausgetragen wurde.
Als das Tippen wieder einsetzte, hatte ich in meinem Kopf ein Bild von Loki, Kreuzstich über den Lippen. Und obwohl der zugenähte Patient dann nie in die chirurgische Abteilung gekommen war, fragte ich mich zum Zeitvertreib wie er das - so rein handwerklich - hinbekommen hatte. Als ich später meinem Partner davon erzählte hatte er kein Verständnis für die Routine, mit der ich über das selbstverletzende Verhalten des Mannes redete. Aber dann war er ja auch nicht auf dem Weg sein Geld mit dem Flicken von Menschen zu verdienen.
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Momentaufnahmen
Short StoryPrägnante Bilder und Momente aus dem alltäglichen Klinik-Wahnsinn