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Die nächsten drei Stunden waren sterbenslangweilig. Ich sah gefühlte sechsundachtzig Mal auf die Uhr. Es schien, als ob sich der Stundenzeiger nicht einen Millimeter weiter bewegen würde, geschweige denn der Minutenzeiger. Für den Rest der Woche würde ich mir auf jeden Fall ein gutes Buch mitnehmen.

„Oh. Mein. Gott. Ich. Sterbe. Vor. Langeweile.", raunte ich Jyl zu. „Du. Warte. Ich. Komm. Mit. Lass. Uns. Einen. Massenmord. Veranstalten.", antwortete sie. „Tu was, bitte", flüsterte ich. „Im Ernst, Ahsoka, wenn mir eine sinnvolle Beschäftigung eingefallen wäre, hätte ich sie schon längst mit Freude ausgeführt." – „Ich überlege die ganze Zeit, ob ich nicht anfangen soll, Gedichte zu schreiben. Über das elende Leben eines Schülers. Darüber, welch große Langeweile in manch noch so kleinem Klassenzimmer herrscht." – „Gib mir Bescheid, wenn du eines davon fertig hast, dann analysiere ich es auf Versmaß, Reinschema und rhetorische Figuren und lerne es auswendig.", sagte sie. Ich musste schmunzeln. Gedichtinterpretationen waren eine der schlimmsten Textsorten, die wir in Deutsch kennengelernt hatten, aber offensichtlich war durch das ewige Wiederholen wirklich etwas davon bei uns hängen geblieben. Ob das nun von Vorteil war oder nicht, darüber ließ es sich streiten.

Doch irgendwann war es soweit: Der Vormittagsunterricht dauerte nur noch wenige Minuten und ehe ich mich versah, hatten wir auch schon Mittagspause. „Gehst du mit Supermarkt?", fragte Jyl. „Ja, gerne, ich muss nur noch schnell was für später kopieren, ich komm dann nach", antwortete ich. Und mit diesem Worten ging ich die Stiegen runter in die Aula zum Kopierer. Ich holte mein Portemonnaie aus dem Rucksack – es war eine Schande, dass man fürs Kopieren zahlen musste – und warf zwanzig Cent ein. Anschließend kramte ich die zu kopierenden Zettel aus meiner Mappe, legte den ersten davon auf das Glas und schloss den Deckel. Dann drückte ich auf den Knopf und wartete. Unser Schülerkopierer war nicht gerade der schnellste, also dauerte es eine Weile, bis er endlich das Blatt ausspuckte. Während ich die restlichen Seiten vervielfältigte, sah ich mich ein wenig um und beobachtete die Schüler. Ein paar saßen um einen der Tische in ihre Aufgaben vertieft, den Lauten nach zu urteilen handelte es sich um Französisch, ein anderer holte sich beim Kaffeeautomaten ein koffeinhaltiges Getränk – der ganz nebenbei erwähnt ruhig auch Tee in sein Sortiment aufnehmen konnte – und...

„Hey, hast du kurz Zeit?" Ich drehte mich zu der Stimme aus dem Off um. Vor mir stand ein wildfremder vermutlich-Schüler. „Ähm, ja klar, was gibt's?", antwortete ich etwas überrascht. Zum einen wurde ich normalerweise maximal von Lehrern angesprochen, die mir ganz dringend etwas mitteilen wollten, und zum anderen hatte ich diesem Typen noch nie zuvor hier gesehen. Woher kam der? Ging der in unsere Schule? Wieso wusste ich nichts davon? Er schien circa gleich alt wie ich zu sein, was bedeutete, dass er in meine Stufe gehen musste. Ich kannte so ziemlich alle Schüler aus der achten Klasse, aber dieser war mir noch nie untergekommen. Was zur Hölle? Irgendwie machte mich Wer-auch-immer-er-war mit seinem plötzlichen Auftauchen ziemlich fertig. „Alles ok?", fragte er mich zaghaft. „Ja, ja alles bestens", gab ich ihm mit einem unsicheren Lächeln zur Antwort, womit ich die Situation nicht gerade weniger peinlich machte. Offenbar war ich wieder einmal in Gedanken versunken gewesen und hatte den armen Kerl vor mir völlig vergessen.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine absolute Niete in sozialer Kommunikation und Interaktion war?

„Also, ich bin neu hier [ach nein, da wäre ich jetzt nicht draufgekommen] und man hat mir gesagt, ich solle mich wegen der Schulbücher beim Administrator melden, der würde mir weiterhelfen", erklärte er mir. Da ich ihn mit einem fragenden Blick anstarrte, erläuterte er: „Ich war in der ersten Woche krank und hab deshalb meine Bücher nicht bekommen." Alles klar. „Ich kenn mich in Sachen Schulbüchern auch nicht wirklich aus, aber der Administrator wohnt da links gleich ums Eck.", antwortete ich. Und dann fügte ich hinzu: „Komm mit, ich zeig's dir!" Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen folgte er mir den kurzen Weg in die Kanzlei unserer Schule. Dort entließ ich ihn mit einem freundlichen „Ich hab zu tun, wenn du noch was brauchst, komm einfach" und widmete mich wieder dem Kopierer, den ich, wie ich spontan beschlossen hatte, von nun an nur noch Billy nennen würde. Der Name passte meiner Meinung nach einfach zu diesem alten, langsamen Ding.

Keine zwei Sekunden nachdem ich das letzte Blatt kopiert hatte, stand der mysteriöse Typ wieder vor mir und sagte höflich: „Danke für deine Hilfe!" – „Keine Ursache", antwortete ich. Damit hielt ich unsere nette Konversation für beendet, doch er war nicht ganz meiner Meinung und laberte weiter drauflos. „Ich heiße übrigens Lux und du?"

Herrje, nicht so eine Phrase. Das war fast so schlimm wie „Wie geht's?" oder „Was machst du so?". Reines Konversationamlaufendenhalten. Ich war der festen Überzeugung, dass es die Leute kein bisschen interessierte, wie mein momentaner Gemütszustand war oder welcher sinnlosen Tätigkeit ich gerade nachging.

Aber aus Höflichkeit gab ich ihm meinen Namen preis. „Ahsoka." Pause. „Wenn wir schon am Plaudern sind, ich geh in die 8C und du?", schlug ich mit seinen eigenen Waffen zurück. Er musste schmunzeln. „Ich wurde bis dato noch keiner fixen Klasse zugeteilt, aber ich war schon in deinen beiden Parallelklassen." – „Falls es dich interessiert", fügte er hinzu. Es schien mir so, als hätten wir eine gewisse Ähnlichkeit, was Konversationen anbelangt. Ich war mir noch nicht ganz sicher, aber ich hatte das Gefühl, dass ich diesen Typen eventuell doch mochte. Ein ganz kleines bisschen.

„Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich hab nur noch zwanzig Minuten Pause und würde gerne noch was zum Essen kaufen." – „Oh. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Man sieht sich!" Und weg war er. Sieh an, der Typ konnte ja doch ganz vernünftig handeln.

In Windeseile ging oder vielmehr lief ich zum nächstgelegenen Supermarkt und kaufte mir mein Mittagessen. Dann joggte ich zurück zur Schule und setzte mich vor den Klassenraum, wo ich in einer knappen Viertelstunde Unterricht hatte.

Die blaue LaterneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt