Kapitel 1

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Cameon schlug die Augen auf und setzte sich auf. Er hörte das Singen der Vögel, die in dem Baum vor seinem Fenster saßen, sah die Sonnenstrahlen, die die bunten Malereien an seinen Wänden in hellen Farben erstrahlen ließen. Szenen aus dem Wald, Tiere und ein Fluss begrüßten ihn.

Ohne zu zögern, ergriff er seinen Zeichenblock und setzte den Graphitstift auf das dicke Papier an. Es war immer das Gleiche – er saß für fünf Minuten still, bewegte sich nicht, dann begann sich seine Hand zu bewegen. Ununterbrochen wanderte sie über das Papier und zog schwarze Linien, die anschließend Konturen formten.

Nach und nach entstand das Bild, das in seinem Kopf festsaß. Es war die Silhouette eines Mannes mit eleganten Gliedmaßen, straffen Muskeln und langem seidigen Haar, das ihm über den Rücken fiel. Seine weiße Tunika war nach unten geschoben, sodass ein Teil seines Gesäßes zu sehen war. Dieser stand in einem Fluss, während das Wasser seinen wunderbaren Körper umspülte. Goldenes Sonnenlicht traf auf die marmorfarbene Haut, welche glitzerte. Es wirkte, als würde er Schuppen auf dem Körper besitzen, die das Sonnenlicht reflektierten. Immer wieder verfolgte er die Bewegung, wie die weiße Tunika nach unten glitt und genau diesen Anblick freigab. Wer bist du? Wieso raubst du mir den Schlaf?

Jeden Tag lief er wie ein Besessener an diese Stelle, an der er sich versteckte und ihn beobachtete. Der Grund, weshalb er losgezogen war, war längst vergessen. Er war aufgebrochen, um das Monster, das in dem Wald lebte, zu töten. Wie sollte er seinem Vater auf den Thron folgen, wenn er nicht für sein Volk sorgen konnte? Sie mussten Zugang zum Wald und dessen Rohstoffen erhalten, doch das Monster verhinderte es.

Mit einem Schwert bewaffnet, war er losgelaufen. Er war in de Wald gegangen und hatte nach Spuren gesucht. Als er Fußabdrücke im feuchten Moos entdeckt hatte, war er diesen gefolgt. Cameo hatte sich langsam durch das Dickicht bewegt, hatte vorsichtig hinter einem Baum gestanden und um diesen geschaut. Da hatte er ihn gesehen. Die Szene, die nun auf dem Papier prangte, war vor seinen Augen erschienen. Stumm war er dort gestanden, unfähig die Augen abzuwenden. Wie kann jemand so schön sein? Wie wohl sein Gesicht aussehen mochte?

Jeden Tag stahl er sich davon, um diesen beim Baden zuzuschauen, doch nie hatte er sein Gesicht gesehen. Mit jedem Mal wurde sein Verlangen danach größer, doch er durfte nicht. Ich darf mein Ziel nicht vergessen. So suchte er Tag ein Tag aus nach dem Monster, doch er fand es nicht.

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Aeden wurde wie jeden Tag von der Sonne und den Geräuschen des Waldes geweckt. Mit einem Gähnen streckte er sich und schob die Decken aus den sanften Daunen der Vögel zurück. Das Licht fiel auf seine makellose Haut und die perlmuttfarbenen Schuppen darauf begannen zu leuchten. Das Farbenspiel überzog seinen Körper, sodass dieser schillerte.

Sanft richtete er sich auf und kämmte mit einem Holzkamm seine langen, weiße Haare, die ebenfalls einen perlmutfarbenen Schimmer hatten, um sie anschließend zu einem Zopf flechten. Seine Augen leuchteten dagegen in einem hellen Grün, welche der Farbe des Waldes entsprach. Eine kleine Schlange schlängelte sich über den Boden und wand sich um seinen Arm, während kleine Vögel sich auf seinen Schultern niederließen.

„Guten Morgen", zwitscherten sie freudig und Aeden streichelte sie mit einem Lächeln.

„Guten Morgen, meine Kleinen. Habt ihr gut geruht?", fragte er mit seiner warmherzigen Stimme, die jedes der Tiere sofort bezauberte.

„Der Eindringling kam erneut", zischte die Schlange an seinem Arm.

Vorsichtig zog er sie ab und hielt sie in beiden Handflächen. Er schaute sie an und fragte: „Hat er etwas zerstört?"

Die Schlange verneinte. Also war er wieder stundenlang durch seinen Wald gezogen, doch was suchte er?

Aeden war der Gott des Waldes, war die Seele, die diesen Ort und seine Bewohner schützte. Jeder, der eindrang und diesen zerstörte, würde seine Macht zu spüren bekommen. Er drehte sich und das Sonnenlicht fiel auf ein Mal, welches auf seiner rechten Brust prangte. Es waren zwei gekreuzte Mondsicheln – das Zeichen seines Fluchs. Er war der Beschützer des Waldes, konnte ihn aber nicht verlassen. Grund dafür war der Zorn der Götter über ihn selbst, denn er war ein Halbgott. Seine Mutter hatte sich mit einem Menschen verbunden und ihn gezeugt. Dafür waren sie beide hierher verbannt worden.

Zu seiner Trauer war seine Mutter vor Jahren gestorben – sie wurde durch die Hand der Menschen getötet, die diesen Wald zerstören wollten. Seit diesem Tag hatte Aeden Angst vor den Menschen. Er wollte nicht in ihre Nähe, doch der Eindringling kam einfach ungefragt in den Wald. Die Tiere hatten ihm gesagt, er habe ihn beim Baden beobachtet. Jeden Tag spürte er den Blick auf sich, weshalb er ihm immer den Rücken zudrehte. Er wollte ihn nicht sehen, hoffte er würde verschwinden. Doch solange dieser nichts Schlechtes tat, konnte er ihn nicht entfernen.

Mit einem Seufzen erhob er sich und ließ die weiße Tunika aus Baumwolle über seinen Körper gleiten. Wie jeden Tag lief er durch seinen Wald, untersuchte die Bäume und Tiere, heilte diese, sollten sie Verletzungen haben. Er war der Atem des Waldes, weshalb dieser gedieh und aufblühte.

༻✧༺

Als die Dunkelheit hereinbrach, konnte sich Cameo nicht mehr zurückhalten. Ich muss ihn sehen. Er hatte heute nicht in den Wald gehen können, da er bei einer Sitzung des Rates hatte anwesend sein müssen. Die Sehnsucht quälte ihn. Frustriert biss er sich auf die Unterlippe und fasste einen Entschluss. Schnell warf er einen schwarzen Umhang um, steckte sich zwei Dolche in die Halterungen an seinem Körper und nahm eine Öllampe mit.

Wie ein Geist flogen seine Füße über den Boden und er verließ das Anwesen in Richtung Wald. Am Waldrand entzündete er die Lampe, um wenigstens etwas zu sehen und nicht von der Dunkelheit des Waldes verschluckt zu werden. Er hatte erwartet, dass es ruhig war, doch nachts waren viele Tiere aktiv, was ihm eine Gänsehaut bescherte. Er wanderte zu dem Fluss, doch dort war niemand. Natürlich nicht. So wanderte er weiter, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war.

Ein Flattern ließ ihn überrascht nach oben schauen. Er kniff die Augen zusammen, dachte zunächst, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Im Licht des Mondes sah er Umrisse eines Bauwerks. Ein Baumhaus? Sein Mentor hatte ihm eines gebaut, als er klein gewesen war. Es war seltsam, denn als er an den Baum trat, sah er die Äste, die gerade aus diesem ragten, sodass sie wie eine Wendeltreppe nach oben führte – Zufall?

Vorsichtig trat er auf den ersten und spürte, dass dieser stabil war. Er lief, sich gegen den Stamm lehnend, nach oben in das dichte Geäst. Tatsächlich befand sich dort ein Baumhaus welches ungefähr zwei auf drei Meter groß war. Er löschte das Licht und hängte die Lampe an einen Ast, lief langsam zu der Öffnung, die in das Innere führen würde.

Das silberne Mondlicht fiel durch eine Öffnung hinein und erleuchtete den Raum. Ein Schimmern zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich und erstarrte. Ein silbernes Farbenspiel schimmerte auf dem Boden und er erkannte den Grund. Langes, weißes Haar, das wie ein Fächer ausgebreitet war und eine schimmernde Haut. Ein sanft geschwungenes Kinn, hohe Wangenknochen, eine schlanke und gerade Nase und dunkle Wimpern, die Schatten auf die schimmernde Haut warfen.

Vor Cameo lag das schönste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, er vergaß zu atmen. Sanft senkte er sich und setzte sich auf den Boden, betrachtete den jungen Mann, dessen Körper bis zu seinen Schlüsselbeinen mit einer dunklen Decke bedeckt waren. Er sah friedlich aus, so vollkommen.

Stunden vergingen, doch Cameo wollte nicht gehen, er wollte ihn weiter betrachten. Als die Müdigkeit bei ihm einsetzte, entschied er sich zu gehen. Unwillig erhob er sich und lief leise davon. Er kehrte zurück in sein Anwesen und schloss die Augen. Stunden später fuhren seine Finger über das Papier und er hielt zum ersten Mal das Gesicht des Wesens fest, an das er sein Herz verloren hatte.



Atem des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt