Ich stehe am offenen Fenster und mustere, die vollkommen leere Bakerstreet unter mir, ehe mein Blick zu dem hell erleuchteten Fenster gegenüber schweift. Ich warte. Während mein Blick zum sternenklaren Himmel wandert vernehme ich endlich die ersten Töne. Zart wehen sie zu mir herüber und als ich abermals auf das Fenster blicke, sehe ich den Umriss des hochgewachsenen Detektives auf den Vorhängen abgezeichnet, wie in einem Schattentheater.
Die gesamte Bakerstreet hatte sich schon an den gelegentlichen Klang der Violine mitten in der Nacht gewöhnt und manchmal, war sie sogar das einzige was mich beruhigte wenn ich partout nicht schlafen konnte.
Das Lied hatte heute etwas aufgebrachtes und war irgendwie melancholisch -um nicht zu sagen nostalgisch- und ich kann es nicht zuordnen. Wahrscheinlich hatte Holmes es selber komponiert.
Jetzt oder nie, denke ich und nehme endlich allen Mut zusammen.
Ich setze vorsichtig das kalte Metall an meine Lippen und eine angespannte Gänsehaut schleicht meinen Nacken hinauf. Eine nervöse Vorfreude zupft meine Mundwinkel nach oben. Ich hohle noch einmal Luft und spiele dann vorsichtig, probehalber, um ja nicht die Violine zu übertönen, die Melodie nach, die der Mann gegenüber vorspielt. Zwar versetzt und ein wenig verändert aber trotzdem erkennbar.
Einige Zeit geht das so weiter, bis ich mich letztendlich gänzlich der Musik hingebe. Für außenstehende mochte es den Schein haben, als ob wir völlig ignorant gegeneinander spielen würden, aber in Wahrheit war es ein reibungsloses, ja fast perfektes Zusammenspiel. Zwei Musiker welche aneinander vorbei spielten und dennoch zusammen gehörten, da sie ihre Melodien gegenseitig immer wieder aufgriffen und aufeinander aufbauten. Noch lange erfüllte das sanfte Pianissimo von Trompete und Violine die ansonsten stille Straße, bis sie schließlich irgendwann leise abklingen und dann gänzlich verstummen. Als ich schließlich das Instrument absetze, kann ich sehen, dass mir der Schatten zunickt. Ich erwidere den stummen Gruß und wende mich dann ab. Euphorisiert und von der leichten Winterbriese fröstelnd schließe ich das Fenster.
Das war bizarr. Irgendwie.
Herrlich bizarr.Doch so waren die Dinge bisweilen mit Sherlock Holmes. Und in dieser Nacht hatte ich, ihn kennengelernt, den Detektiv aus der Bakerstreet.
Was ich nicht hätte ahnen können, war die Tatsache, dass dies meine erste von mehreren, mindestens genauso interessanten, Begegnungen mit Sherlock Holmes sein sollte.~
fin.
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Nachtmelodie
FanfictionWinterliche Stille in der Bakerstreet. Zwei Musiker. Der erste von vielen unvergesslichen Abenden.