Waiting

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Das Ticken der Uhr machte mich immer auf seine eigene, stumpfsinnige Art nervös und das Ticken dieser einen speziellen Uhr war besonders schlimm. Tick Tack, Tick Tack; Ich überschlug meine Beine und sah die Frau beim Empfang an. Sie las irgendeine dieser schrecklichen Zeitungen, die seltsamer Weise immer die Namen von Frauen mittlerern Alters haben. Ich meine, wer will ein Magazin namens Brigitte oder Susanne lesen? Von eben solchen Zeitschriften lagen auch dutzende hier im Warteraum. Das nervende Klicken der Uhr, die schwüle, drückende Hitze und das angestarrt werden von Topmodels auf Lebenstipps gebenden Magazinen mit Namen, die ich, falls ich mal Kinder haben sollte, ihnen niemals antun würde, machte mich zunehmends angespannter. Die dickliche Dame auf dem zerbrechlichen Sessel neben mir, der aussah als würde er unter dem fülligen Gesäß jener (sie las übrigens das Magazin Maxima) zusammenbrechen, schien etwas überanstrengt von der Gesamtsituation, denn sie kniff die ganze Zeit die Augen zusammen und Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. Das Knarzen und Ächzen, das er von sich gab verstärkte meine Sorge um den zarten Holzstuhl zunehmends. Endlich wurde mein Name aufgerufen und ich trat in das Zimmer des Arztes. Es schien, als hätte sich jemand wirklich viel Mühe gegeben den Raum gemütlich aussehen zu lassen, doch letztendlich war das alles nur Show und sah genauso aus wie jedes andere Zimmer in jeder anderen Praxis von immer unterschiedlichen Psychodoks, die eigentlich nicht einmal wirklich wissen, wer die Menschen sind, mit denen sie reden. Und so höre ich mir Tag für Tag immer das selbe Geschwafel an, darüber, dass das Leben im Prinzip nichts anderes als ein Weg sei und, dass der Sinn des Lebens irgendwas mit dem Weg zu tun hat. Und am Ende dieser einen Stunde stelle ich ihnen alle eine Frage, doch konnte mir kein Buch und kein Therapeut, Psychologe, Philosoph oder religiöser Fanatiker diese Frage je beantworten. Für mich gibt es keinen Weg, keinen Sinn des Lebens und keine Ziele in naher oder ferner Zukunft, die mir Kraft geben. Für mich gibt es keinen Gott und meine Familie behandelt mich wie einen psychisch instabilen Sozialkrüppel, was ich genau genommen auch bin, aber sie könnten mich wenigsten wie einen Menschen behandeln. Also lebe ich einzig allein von dieser einen Frage, doch an den schlechten Tagen reicht diese Frage einfach nicht aus. Meine Grundschullehrerin hätte gesagt, dass ich mit genug Willenskraft diese Frage irgendwann beantworten könnte und dann alles wieder gut werden würde. Doch denke ich, dass ich ein wenig Angst davor habe diese Frage beanzwortet zu bekommen. Zumindest an den guten Tagen, an denen das Teelicht in meinem Kopf mit meinem Lebenswillen zumindest ganz schwach flackert.

Ein leichter Duft nach Vanille hing in der Luft und obwohl ich wusste, dass bei dieser Stunde, genau wie bei allen anderen, nichts herauskommen würde, war ich glücklicher als ich es seit Jahren gewesen war. Ich setzte mich auf das lederne Sofa und betrachtete den Mann vor mir ganz genau. Er trug eine Lesebrille und sein schütteres Haar war leicht zersaust. Er hatte mehr das Aussehen eines Physikprofessors mittleren Alters als das eines typishen Psychotherapeuten, aber ich beschloss nicht voreingenommen zu sein.

Er setzte sich auf einen alten, mit gemustertem Stoff überzogenen Sessel und eine weitere Stunde des Redens und keine Antworten bekommens brach an. Ich achtete nicht besonders auf das, was ich sagte und auch nicht auf seine Erwiderungen, denn das alles kam mir so schrecklich gewohnt vor. Alles was ich sagte, hatte ich schon dutzende Male davor gesagt und alles was er antwortete wurde mir schon viel zu oft in mein Gehirn hineingepresst, deshalb saß ich da und hörte den Vögeln beim Zwitschern zu, dachte über all diese vergeudete Zeit nach, während ich mit einem anderen Teil meines Gehirns zumindest ein bisschen damit beschäftigt war, was der Mann vor mir von sich gab.
Mitten in der Stunde stand ich schließlich einfach auf und ging. Ich war nicht traurig oder enttäuscht, nein, ich war sogar irgendwie froh darüber, dass alles wie immer war, denn mir war während dieser Zeit bewusst geworden, dass ich an den falschen Stellen und bei den falschen Personen nach der Antwort auf meine Frage, die eigentlich unser aller Frage war, suchte. Und auch obwohl ich ihm dieses eine Mal die Frage nicht gestellt hatte, war mir bereits nach der ersten Minute klar, dass er auch nur einer von vielen war und sich selbst nie so sehen könnte, wie ich mich und den Rest der Menschlichen Rasse sah, daher konnte er auch unmöglich dazu in der Lage sein mir meine Frage zu beantworten. Und so beschloss ich von all der Gewohnheit und dem Alltag wegzukommen und machte mich auf den Weg nach irgendwo. Ich wusste nicht wo Irgendwo ist, denn schließlich ist irgendwo einfach nur irgendwo. Oder nicht? Aber das Gute daran ein mit Strom betriebenes Auto zu besitzen ist, dass man erstens hinfahren kann, wo man will und zweitens dabei die Umwelt nicht allzu sehr verpestet.

Ungefähr eine Stunde nach dem beinahe fluchtartigen Verlassen der Praxis meines Therapeuten für eine halbe Stunde, hatte ich meine Sachen gepackt und war losgefahren. Zuerst aus der Stadt hinaus und schließlich auf die Autobahn in den Westen. Ich wusste nicht was im Westen lag und zu dem Zeitpunkt sah ich außer glänzenden Autos und einer langen, grauen Straße nichts weiter als Felder an mir vorbeirauschen. Der Wind, der durch das geöffnete Fenster meines Wagens hereinkam, strich mir durch meine Haare und die Abendsonne schien mir direkt ins Gesicht. Nun, da ich weg von der mir bekannten Welt war, fiel es mir viel leichter optimistisch zu sein und klare Gedanken zu fassen. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu und ich beschloss an der nächsten Raststätte zu übernachten, also fuhr ich 100 Kilometer von meinem zu Hause entfernt in die Einfahrt eines kleinen Hotels, das am Rand eines Dorfes lag, ein und beschloss mich dort für die Nacht niederzulassen.
Das Hotel war bezaubernd, es sah aus wie im Märchenbuch. Überall standen Blümchen und kleine Figuren; die Tapeten hatten wunderschöne, alte Blumenmuster und das Bett war so weich, dass ich dachte, ich würde glatt darin versinken. Die Hotelbesitzer waren ein warmherziges Ehepaar, die mich so gut umsorgten, sodass ich mich fühlte, als wäre ich ihre nach langem zurückgekehrte Tochter. Die Frau, ihr Name war Margarete, war eine phantastische Köchin und ihr Ehemann Charlie, war der beste Pianist, den ich je kennengelernt habe. Die beiden erzählten mir wahnsinnig viel über ihre Kinder Theodore und Jenni. Jenni war mit zwölf Jahren nach vielen Jahren des Leidens an einer seltenen Form von Krebs gestorben und Theodore, sie nannten ihn Teddy, lebte glücklich mit einer Frau und drei Kindern am anderen Ende des Dorfes und leitete dort eine kleine Bäckerei.

Die beiden Hotelbesitzer schienen mit ihrem Leben hier quasi am Ende der Welt glücklich zu sein und freuten sich über alles positive, dass ich ihnen über mein Leben erzählen konnte.
Ich glaube sie hielten mich für einen viel besseren und glücklicheren Menschen, als ich in Wirklichkeit war, denn ich verschwieg ihnen alles über meine psychische Instabilität, denn so nett sie auch waren, sie waren immer noch Fremde für mich. Vielleicht verschwieg ich ihnen die Wahrheit auch deshalb, weil ich wollte, dass sie mich mochten. Ich war seit langem wieder an einem Ort, wo man mich nicht kannte und danach beurteilte, dass ich anders war und hätte ich ihnen von dem grauen, unglücklichen, nach Antworten suchenden Teil erzählt, wären sie wahrscheinlich, wie alle anderen von mir weg gewichen, als hätte ich eine Krankheit. Ich wurde einmal in meinem Leben akzeptiert, auch wenn das nur aufgrund von Teilwahrheiten war.

Ich saß an diesem Tag lange auf der Veranda des Hotels und sah der Sonne zu, wie sie schließlich hinter einem Buchenwäldchen verschwand und den zunehmenden Mond, der zusammen mit den leuchtenden Sternen die Dunkelheit des Nachthimmels etwas heller machte. Und auch, wenn ich an diesem Tag mein Leben zumindest für eine Weile verändert hatte, war ein Stück trotzdem gleichgeblieben.

Ich wartete auf etwas. Auch wenn ich nicht wusste auf was.

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