Stiller Regen

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Meine Füße tappen wie von selbst durch die dunklen Gassen meines Heimatdorfes. Der Regen prasselt laut auf den Boden, die Straßen, die Dächer der Häuser und gegen die Fenster. Auch auf meinem Regenschirm fließt ein Wasserfall an den Ecken herunter. Allerdings höre ich die Geräusche des Regens nicht, denn auf meinen Kopfhörern läuft auf höchster Lautstärke 'Daylight' von David Kushner.

Das Lied habe ich immer zusammen mit meinem besten Freund gehört. Fynn. Seine waldgrünen Haare, die ihm bis in den Nacken gingen und ihm immer ins Gesicht fielen, kommen mir in den Sinn. Ich hatte mir den selben Haarschnitt schneiden lassen und wir beide haben dafür von unseren Eltern zwei Wochen Hausarrest bekommen.

Beim Gedanken an die Reaktion meiner Mutter muss ich mir ein Grinsen verkneifen. Fynn und ich hatten uns trotz des Hausarrests getroffen. Da unsere Zimmer einander gegenüberliegen, konnten wir einfach über die große Birke, die zwischen den Häusern stand, ins Zimmer des jeweils anderen klettern.

Jetzt ist die Farbe fast herausgewachsen, nur ein paar vereinzelte blassgrüne Haarspitzen erinnerten noch daran.

"Oh, I love it and I hate it at the same time. You and I drink the poison from the same vine.", singt David Kushner in meine Ohren.

Plötzlich werde ich von der Seite in die Rippen gepiekst. Ich erschrecke mich leicht und zucke zusammen, auch weil ich kitzelig bin. Als ich aufschaue, sehe ich Fynn neben mir stehen. Sein Lachen ist so fröhlich und breit wie eh und je. Er nimmt mir einen der Air Pods aus dem Ohr, steckt ihn in sein eigenes und sagt: "Wir sind schon wieder spät dran. Mach mal bisschen scheller, Niko."

Danach schnappt er mir mit frechem Lachen den Regenschirm weg und rennt weiter in die Gasse hinein. Jedes mal, wenn seine Schuhe in die Pfützen klatschen, spritzt das Wasser hoch und saugt die Unterseite seines Rucksacks voll.

Ich packe meinen Rucksack an den Riemen und fange an, Fynn hinterher zu laufen. Er hat längere Beine als ich und ist auch einen halben Kopf größer als ich, dementsprechend schnell war er auch.

Für mich war es quasi unmöglich ihn einzuholen und ihm den Schirm wieder abzunehen. Also prasselt der Regen fröhlich auf mich herunter und durchnässt meine Klamotten und Haare.

Vor mir durch den strömenden Regen sehe ich seinen leuchtend grünen Haarschopf auf und ab hüpfen, während er den Schirm hin und her schwingt, damit herumwedelt, ihn in die Luft hält und springt als wäre er Marry Poppins.

Ich kann Fynn erst an der Bushaltestelle einholen. Wir stellen uns zusammen unter das Vordach und er hält mir eine heiße Thermoskanne hin, die ich aber dankend ablehne.

"Was hast du am Wochenende gemacht?", fragt er mich wie immer, wenn wir uns nach dem Wochenden wieder sehen.
"Nur das Übliche. Gezeichnet, gegessen, geschlafen und gelesen", antworte ich wie immer.
Dann schweigen wir beide.

Seit er nicht mehr neben mir wohnt, sehen wir uns nicht so oft. Seine Eltern haben sein Fenster zugenagelt und die Birke gefällt. Dort wo sie früher stand, haben sie nun einen kleinen Gedenkstein gebaut. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich Fynn davor sitzen sehen.

Seine schokobraunen Augen sehen dann immer traurig ins Leere, aber immer wenn ich ihm zuwinke, dann lächelt er mit zu, steht auf und verschwindet hinter der nächsten Ecke.

Unsere Freundschaft ist noch vorhanden, nur nicht mehr so stark wie früher. Trotzdem versteht er mich auch ohne Worte. Selbst jetzt noch. Selbst seitdem er irgendwie weg ist. Für alle. Außer für mich.

Der Bus kommt und fährt durch die große Pfütze am Bahnsteig, sodass das Wasser hoch spritzt und mich durchnässt. Fynn ist, obwohl er vor mir steht, immer noch trocken. Ich habe aufgehört, seine Absonderlichkeiten in Frage zu stellen. Zu froh bin ich, dass er noch da ist.

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