Kapitel 2

4 1 0
                                    

Sie sagten, es war Rettung in letzter Minute. Dass ich mich glücklich schätzen könnte, so einen Schutzengel gehabt zuhaben und dass so viel Mut bewiesen wurde, um mich zu retten. Aber ich fühlte mich nicht gerettet. Ich fühlte mich einsam, obwohl ich dauernd von Menschen umgeben war. Ich fühlte mich allein, denn es waren Fremde und sie redeten zu viel und ich zu wenig. Ich konnte meine Gedanken nicht fassen und erst recht nicht aussprechen. Es waren einfach zu viele. Zu viele Gedanken, zu viele Menschen, zu viele Gesichter, die mir zu nah kamen, zu viele Augen, die mich anstarrten, zu viele Münder, die mir Fragen stellten. Zu viel, zu viel, zu viel.

Ich fühlte mich nicht gerettet. Ich fühlte mich, als hätte man mich von einem Leben in ein anderes gesteckt, ohne mich zu fragen, und dieses neue Leben fühlte sich an wie zu enge Kleidung, die an meiner Haut kratzte und mir den Raum zum Atmen nahm. Ich verstand nicht, warum ich dieses neue Leben tragen musste, warum ich nicht wieder zurück konnte, nach Hause, nach Peace River, zu meinen Eltern. Ich verstand nicht, dass sie mich nie besuchen kamen, nicht im Krankenhaus, nicht im Kinderheim, nicht in der Psychiatrie. Warum ich ihre Gesichter nur in meinen Träumen sah, und ich verstand nicht, warum ich träumte, wenn ich wach war.

Es besuchten mich Menschen, die sich als meine Großeltern vorstellten, und sie sagten, sie seien für mich aus Europa angereist, doch ich antwortete ihnen nicht, erkannte sie nicht einmal, und nach einigen Wochen wurden ihre Besuche seltener, bis sie irgendwann gar nicht mehr kamen. Ich weiß nicht mehr, ob sie sich verabschiedet haben, bevor sie zurück in ihr Leben gereist sind, nur, dass ich an meinen Geburtstagen immer Glückwunschkarten von ihnen bekam. ›Alles Gute‹ stand darauf, aber egal, wie oft ich Geburtstag hatte und wie oft sie mir alles Gute wünschten und wie oft ich mir das selbst wünschte, es wurde nie alles gut. Es wurde alles mal ein bisschen besser und mal ein bisschen schlechter und mal sah ich Gesichter, die ich kannte, und mal Fremde, bei denen ich eine Zeit lang wohnte. Aber es wurde nie alles gut und die meisten hörten auf, mit mir zusprechen, mir zu sagen, dass ich Glück gehabt hatte, weil ich ihnen nie zustimmte, weil ich ihnen gar nicht antwortete.

Ich glaubte, meine Stimme in meinem anderen Leben vergessen zu haben, in dem kleinen blauen Koffer mit pinken Schmetterlingen und Blüten, der mit meinen Eltern verschwunden war. Ich denke, sie glaubten das auch, denn irgendwann zog ich wieder um, aber diesmal nicht zu einer Familie, die so tat, als würde ich zu ihnen gehören, sondern in eine Psychiatrie für Kinder und Jugendliche in Dawson Creek. Ich lernte weitere Gesichter kennen, ein Faltiges mit zu viel Lippenstift und Lidschatten, ein Schmales mit einer dünnen Nase und eines mit grünen Augen und einer Brille. Ich mochte ihre Stimme, mochte, dass sie mit mir redete, obwohl ich nicht antwortete, dass sie sich Möglichkeiten überlegte, wie ich mit ihr kommunizieren konnte, ohne zu sprechen.

Lana Jones war der erste Name, den ich mir merkte, und das erste Gesicht, mit dem ich irgendwann sprach. Sie half mir, zu verstehen, und ich dachte, dass das ausreichte, damit endlich alles gut wurde. Aber ich hatte unrecht. Ich passte nie in dieses Leben, warf Geburtstagskarten weg, ohne sie zu lesen, und flüchtete mich in eine Welt der Farben, in der ich das Gefühl hatte, endlich wieder atmen zu können.

Sag meinen NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt