Kapitel 1

7 2 0
                                    

Farben vermischen sich mit Gefühlen, vermischen sich mit Tränen, und Tropfen um Tropfen entstehen Pinselstriche auf dem weißen Papier. Pinselstrich um Pinselstrich entsteht Farbe auf dem weichen Papier, Farbe um Farbe entsteht ein Ozean auf durchweichtem Papier. Ich male, bis die Farbe meine Gedanken verschleiert, bis neue Bilder alte verdecken, wenigstens für einen Moment. Mit dem Pinsel in der Hand, Farbe an den Fingern und getrockneten Tränen auf der Haut starre ich auf das Bild, frage mich, wie viel Zeit ich habe, bis sich die Erinnerungen erneut durch die Farbschichten brennen, bis Rottöne das Blau verdrängen, Hellrot das Hellblau, Dunkelrot das Dunkelblau, und Gesichter das Meer. Gesichter, die ich nicht vergessen kann. Schmerzverzerrte Gesichter, kaum noch als solche zu erkennen. Ich starre sie an und sie starren zurück, während Farben ihre Haut versengen. Ich rieche Rauch und Benzin, schmecke Blut und Dreck, spüre, wie Hitze und Angst meinen Körper erklimmen, mich so fest umklammern, dass ich nicht mehr atmen kann. Ich höre jemanden schreien und ich weiß nicht, ob ich es bin, aber ich weiß, dass ich gern schreien würde. Stattdessen stürze ich mich in das Bild, stürze mich in die Wellen, stürze mich in die Tiefen des Ozeans. Ich lasse mich sinken, tiefer und tiefer, und je tiefer ich sinke, desto schwereloser fühle ich mich, denn hier gibt es keinen Schmerz und keine Angst und ich fühle mich so frei, so frei, so frei. Ich spüre nichts als das Wasser in der Unendlichkeit des Meeres, das behutsam um meinen Körper wirbelt, und ich schließe meine Augen, genieße die angenehme Kälte. Doch als ich sie wieder öffne, umgibt mich die Dunkelheit. Ich gehe unter. Angst steigt in mir auf, denn ich kann unter Wasser nicht atmen und mein Körper kann dem Druck nicht standhalten. Ich muss wieder zurück nach oben, dorthin, wo das Licht ist, und ich muss atmen, doch so sehr ich auch kämpfe, ich sinke bloß tiefer, meine Lungen verkrampfen, verzweifelt, sehnsüchtig, und das Wasser färbt sich rot. Es gibt gute und schlechte Tage. Ich denke, das ist bei allem so. Es gibt gutes und schlechtes Wetter, gute und schlechte Menschen, gute und schlechte Erlebnisse. Heute ist ein schlechter Tag. Normalerweise hilft mir die Musiktherapie, weil ich dabei nicht sprechen muss und beim Hören der verschiedenen Melodien meine Gedanken ordnen, sie manchmal sogar zur Ruhe kommen lassen kann. Heute hätte ich diese Stille gebraucht, denn seit ich aufgewacht bin, dreht sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf in einer ungewohnt hohen Geschwindigkeit.

Es gibt gute und schlechte Tage und heute ist ein schlechter. Heute komme ich nicht zur Ruhe. Worte hallen in meinem Kopf wider, fremde Worte, doch meine Gedanken übertönen sie und trotzdem bekomme ich keinen einzigen zu fassen; so sehr ich es auch versuche, so weit ich meine Hände auch nach ihnen ausstrecke, obwohl meine Fingerspitzen sie bereits berühren. Satzfetzen und Wortschnipsel wüten in meinem Kopf, kämpfen um einen Platz dort, wo ich sie hören kann. Doch es ist ein Kampf, den keiner von ihnen gewinnen kann. Sie zerstören sich gegenseitig und sie zerstören mich und zurück bleibt ein verwüstetes Schlachtfeld voller toter Gedanken und ohne Sieger. Satzschnipsel und Wortfetzen wüten in meinem Kopf. Sie übertönen meine Gedanken, übertönen ihre Worte, übertönen alles außer den Kampf und die Verwüstung, die Bilder und die Namen. Bilder, die sich in meinem Kopf eingenistet haben wie Parasiten. Bilder, die ich nicht loswerde. Bilder und Namen, die in mir widerhallen wie ein Echo ohne Ende, ein Karussell, das nicht aufhört, sich zu drehen. Mir ist schwindelig. Hör auf, dich zu drehen. Hör auf. Nimm mir diese Bilder, nimm mir meine Gedanken, nimm mir meine Worte, nimm mir meinen Schmerz. »Emilia.« Eine Stimme unterbricht den Gedankensturm. Ich sehe auf, sehe sie an, sehe durch einen Schleier aus Tränen und bemerke, dass ich viel zu schnell atme. »Ist alles in Ordnung? Möchtest du für heute aufhören?« Aufhören, wiederhole ich in Gedanken, und Ordnung. Ich will, dass es aufhört, denn ich brauche Ordnung. Doch da ist dieser Gedankensturm, der nicht aufhört zu wüten, und das Karussell dreht sich im kalten Wind und die Bilder bleiben, und elf Jahre vergehen, viel zu langsam und doch zu schnell, und es gibt kein Entkommen für mich, keine Flucht vor dem Sturm. Ich bin das offene Meer und da ist ein Sturm, der mich gegen die Felsen drängt, der mich peitscht und schlägt und da ist Schmerz, der sich mit jeder Welle auf mich nieder senkt. Ms. Irwin berührt meine Schulter, sieht mich an, und ich sehe weg. Sie soll nicht sehen, was ich in mir trage, soll meine Gedanken nicht zu verstehen und meine Gefühle nicht zu erkennen versuchen. »Ich möchte dich ungern so gehen lassen«, sagt sie, fügt hinzu, dass sie ein paar Atemübungen mit mir machen möchte, zur Beruhigung, und ich denke, ja, das ist es, was ich brauche. Ruhe. Ich brauche Ruhe vor dem Sturm und Ruhe vor meinen Gedanken und Ruhe um mich herum und Luft. Ich brauche Luft, denn ich glaube, ich habe vergessen, wie man atmet. Dabei braucht man Luft doch, um zu leben. Wie kann es dann sein, dass ich vergessen habe, wie man atmet? Und warum lebe ich dann noch? Das ist sie, diese eine Frage, die sich seit elf Jahren durch den Gedankensturm kämpft. Diese eine Frage, die ich nicht überhören und nicht übertönen und nicht übermalen kann. Diese eine Frage, deren endloses Echo klanglos in die Stille schreit. Diese eine Frage. Warum lebe ich noch und sie nicht?

Sag meinen NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt