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        Eine kräftige Brise kam vom Meer, trieb Seetang vor sich her und verschwand mit kleinen Wirbeln zwischen den sandigen Dünen. Es roch nach Meer, Salz sowie ein kleines bisschen Sonnencreme. Hier am Strand war es ruhig, der leicht bedeckte Himmel mit der vereinzelt hindurchblinzelnden Sonne hatte die Badegäste heute nur kurz angezogen. Auch die Sonnenuntergangsbestauner hatten die Küste wieder verlassen. So kam es, dass kaum jemand Elias dabei sah, wie er den Strand entlangwanderte. Wäre jedoch jemand dagewesen, hätten sie einen älteren Herren gesehen, dessen kraftvolle Schritte aber verrieten, dass er sich viel bewegte und im Herzen eigentlich jung geblieben war. Seine einst braunen Haare durchzogen nun unzählige dunkelgraue Strähnen, die Haut war braungebrannt, aber faltig. Der Wind blies ihm die schulterlange Tracht immer wieder ins Gesicht, doch er störte sich nicht daran. Das war er seit Jahren gewohnt. Seine blanken Füße hinterließen tiefe Spuren im feuchten Sand.
        „Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie verschieden solche Tage sein können. Man erlebt hunderte, ja tausende von ihnen, und dennoch genießt man es jeden Morgen neu."
        Es wirkte mehr, als habe er zu sich selbst gesprochen, niemand habe ihn hören können. So war es erstaunlich, dass er doch eine Antwort bekam.
        „Wie recht du hast. Deine poetischen Worte treffen wieder einmal, was mein Herz fühlt."
        Elias wandte seinen Kopf der Herkunft der Stimme zu und erblickte neben sich einen kleinen, grauhaarigen Herrn, die kurzgeschnittenen Strähnen wuschelig aber nicht unordentlich abstehend. Sein T-Shirt und die kurze Hose schlackerten ein wenig um den dürren Körper, als seien sie eigentlich für jemand anderen gefertigt worden. Aber Elias wusste, dass sie schon immer ihm gehört hatten, dass er sich eben gerne so kleidete. Ein Lächeln fuhr über sein Gesicht, als er daran dachte, wie sie sich kennengelernt hatten. Es war derselbe Strand gewesen wie heute, nur ein Stückchen weiter südlich. Er war als Urlauber gekommen, Julius hier geboren – nun lebten sie beide in einem völlig anderen Teil der Welt. Doch es zog sie immer wieder hierher zurück. Hier hatten sie beide gelernt, was Liebe bedeutet, und sich geschworen, es niemals wieder zu vergessen.
        Es war einer der besonders heißen Tage gewesen. Früher einmal eine Seltenheit, nun nicht besonderes mehr. Er hatte am Strand gelegen, ein gutes Buch in der Hand – erstaunt musste er nun feststellen, dass er nicht mehr wusste, welches es gewesen war. Julius hatte sich irgendwann einfach zu ihm gesetzt, um ihn anzusprechen. Er lese das Buch auch gerade (es war neu erschienen), und ob er, Elias, sich denn mit ihm unterhalten wolle. Klar wollte er das, darum setzte er sich auf, legte das Buch weg und sie fingen an zu reden. Bald schon stellten sie fest, dass sie einen ähnlichen Buchgeschmack hatten, anschließend, dass ihre Interessen sich auch sonst sehr ähnlich waren. Sie verbrachten viele Stunden miteinander, bis sie hungrig wurden und ein Lokal aufsuchten. Klassische Liebesgeschichte also, dachte Elias lächelnd. Trotzdem war wenig an ihnen klassisch geblieben. Bald schon hatte er zurückfahren müssen, denn seine Arbeit wartete nicht auf ihn, er konnte auch nicht ohne sie leben. Julius war geblieben, auch ihn band einiges an seine Heimat. Wissend, dass sie sich nur selten sehen würden, hatten sie sich unter Tränen verabschiedet. Doch es war alles so anders gekommen.
        Julius' Eltern starben wenige Wochen, nachdem Elias ihn kennengelernt hatte, kurz hintereinander. Ihrem Sohn, der sie seit Jahren hingebungsvoll gepflegt hatte, schwand der Grund unter den Füßen. Voller Trauer, gefüllt mit Angst und Unverständnis über sein Schicksal hatte er sich in einen Zug gesetzt, war drauflos gefahren. Irgendwann war er schließlich vor Elias' Haustür angekommen. Verwahrlost, gebeugt und krank sah er aus. Elias nahm ihn auf, pflegte ihn, redete ihm gut zu. Bald schon besserte sich Julius' Zustand, körperlich wie geistig. Erst jetzt war er wirklich dazu in der Lage, zu erzählen, was vorgefallen war.
        Elias hatte keine Ahnung gehabt. Die Eltern seines Freundes litten seit Jahren an einer schweren Krankheit, die bereits größere Aufmerksamkeit der Gesellschaft bekam. Irgendwann brach sie ohne Vorwarnung aus, warf ihre Patienten nieder zu Bett, das sie nie wieder verließen. Man verstand nicht, was bei Infektion im Körper vor sich ging. Teilweise lebten diese noch einige Jahre, jedoch vielmals nur in sehr schlechtem geistigem Zustand.
        Julius war fortan bei ihm geblieben, hatte ein neues Leben begonnen. Ein gemeinsames. Einige Jahre vergingen, dann trieb es sie in ferne Teile der Welt, jedoch stets gemeinsam. Dennoch vergaßen sie seine Eltern nie. Sie beide waren oft an den Strand, in Julius' Heimat, zurückgekehrt, jedoch nicht um zu trauern, sondern um ihre Leben zu feiern. Elias mochte diese Tradition. Er hatte sie fortgeführt, selbst nachdem Julius sich von ihm getrennt hatte. Eine schwierige Zeit war das für ihn gewesen, Elias hatte nicht verstanden, was ihn dazu bewegt hatte – sie waren so glücklich gewesen. Es war purer Zufall, dass er es herausfand.
        Julius war krank. Todkrank, so, wie seine Eltern es gewesen waren. Ab und zu gab es lichte Blicke, in denen er sein Bewusstsein wiederfand, aber den Großteil des Tages lag er apathisch im Bett, röchelte manchmal nach Luft und schlief. Aber Elias reichten diese wenigen Momente, um zu erkennen, dass sie sich immer noch liebten. Julius war gegangen, um Elias nicht zur Last zu fallen. Es kam ihm unwirklich, fast schon filmreif vor, aber er spürte auch, wie es sie enger verband denn je. Er fand seinen Freund schließlich, denn er hatte einer Pflegestation gespendet gehabt, die Kranke aufnahm, und diese schließlich besichtigt. Bereits im Gehen war Julius ihm dann aufgefallen, sein Bett war an die große Fensterfront geschoben worden. Der Arme flüsterte in seinen wachen Momenten stets etwas von Strand und Meer, das seine Pflegenden sich nicht erklären konnten. Elias nahm ihn sofort mit zu sich nach Hause. Er verstand dessen Sehnsucht nach seiner Heimat.
        Jahrelang blieb es, wie es war. Julius an sein Bett gefesselt, selten nur wach, Elias stets um ihn herum. Ihre Besuche am Strand blieben aus, denn Julius schaffte die Anstrengungen der Reise nicht. Dennoch verloren sie beide nicht die Hoffnung, dass es eines Tages Besserung geben würde. Sie horchten auf, wann immer es Hoffnung auf ein neues Medikament gab, doch stets war es eine Enttäuschung. Irgendwann begann Julius' Zustand, sich weiter zu verschlechtern. Kurzentschlossen hatte Elias ihre Sachen gepackt, eine letzte lange Reise zum Strand gebucht. Am Lebensabend angekommen, erlebte Julius doch noch die Hochzeit, die er sich so lange gewünscht hatte. Im Licht der untergehenden Sonne gaben sie sich das Ja-Wort.
        Viel Zeit war ihm danach nicht mehr geblieben. Bald schon hatte Elias unter Tränen zusehen müssen, wie sein Freund begraben wurde. Er versuchte, wie sie es als Tradition begonnen hatten, das Leben zu feiern. Doch gelang es ihm nicht mehr wie zuvor. Alles war trist, er fand im Leben keine Freude. Es dauerte nicht lange, dann warf es auch ihn ins Bett. Niemand wusste, ob es die Krankheit oder die Trauer waren. Stumm hielt die Dorfgemeinschaft an seinem Bett Wache. Sie hatten immer bewundert, wie er mit Julius die Trauer und das Leben gefeiert hatte, nun umsorgten sie ihn. Elias lächelte viel, doch das Bett sollte er nicht mehr verlassen.
        Nun wanderte er hier am Strand entlang, Julius neben sich. Gemeinsam durchlebten sie ihre Zeit noch einmal. So vieles hatte sie mit diesem Strand verbunden, und wenn Elias zurücksah, sah er sein Leben wie Fußspuren auf dem Sand, immer zwei Paar nebeneinander. Zufrieden schloss er seine Augen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 09, 2023 ⏰

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