Abenteuer und Wiedergutmachung. Das hatte sie einst gesucht, als sie das erste Mal mit wild pochendem Herzen nach den versteckten Kassetten und Geldkatzen voll unterschlagener Münzen in den Zählkammern gesucht hatte. Ihr war schwindlig vor bodenloser Nervosität und dem Weg, bis zurück in ihre Gemächer, hatte Marian heute nur noch verschwommen in Erinnerung. Doch sie erinnerte sich sehr genau daran wie es war, als die Tür damals hinter ihr zufiel oder wie die Augen der jungen Mutter mit dem kranken Kleinkind strahlten, als Marian die schimmernden Münzen am Tag darauf in ihre Hand legte.
Hätte die Lady ihren Vater einfach gebeten, ganz sicher hätte er ihr Geld gegeben. Das tat er schon früher, als sie noch ein junges Mädchen war. Immer dann, wenn ihr Herz vor Mitleid für diejenigen überquoll, die so viel weniger hatten und hungerten, während volle Teller ihren eigenen Tisch ächzen ließen. Damals, vor den Zeiten des gierigen Prinzen. Heute war auch ihre Tafel weniger reich gedeckt. Earl De Burgh schätzte ihr gutes Herz... aber sie würde sich auch immer an seine resignierten Worte erinnern:
'Ganz gleich wie viele Münzen wir auf die Straßen werfen, mein Kind, es wird den Hunger Englands nicht lindern. Wir können ihnen nicht mit Silber helfen.'
'Aber mit was denn dann, Vater?'
Diese Frage hatte sie lange und oft beschäftigt. Nicht täglich allerdings. Das zu behaupten, wäre gelogen. Ihr Geist schweifte oft ab und suchte andere Wege der Zerstreuung für die drückende Langeweile. Dieses Eingeständnis musste sie sich machen. Und doch kehrte ihr Herz wie ein Pendel unausweichlich immer wieder an diesen Punkt zurück. Die Armut, das Leid der Menschen, vor dem viele Adlige so vehement die Augen verschlossen... Es würde sich nicht ewig ignorieren lassen, selbst wenn sie sich auf ihren Burgen einschlossen und die Vorhänge ihrer Kutschen zuzogen.
Es fühlte sich gut an, den Menschen etwas zurückzugeben. Sie vermisste das Herzklopfen in der Dunkelheit, das Kribbeln in ihren Fingern und ja - den süßen Geschmack des Verbotenen. Es war berauschend und der Lohn umso süßer, wenn es einer Familie die Teller für eine weitere Woche füllte.
Aber bisher waren diese Art von 'Abenteuern' nie derart gefährlich für sie gewesen.
Rasselnde Kettenhemden, klackernde Schwertscheiden und Klingen, das Trommeln der schweren Stiefel auf dem Steinboden. Rufe kamen näher. Wachen, an denen sie irgendwie und vor allem ungesehen vorbeimusste. Eilig drückte sie sich in die Schatten und ging in ihrem Kopf den Plan, um in ihr Gemach zu gelangen, zum wiederholten Male durch. Das hier war wie ein Tanz auf den Zinnen der Burg - und ein falscher Schritt könnte sie in den Abgrund reißen.
Ihr Vorteil war die Dunkelheit und die verwinkelten Ecken des Kerkers, der aufgrund einer vor Jahren eingestürzten Mauer sogar in die Kellergewölbe der Burg überging. Das hier war ihr Zuhause. Sie kannte jeden Winkel dieser Burg und Marian musste jeden Vorteil nutzen, den ihr das alte Gemäuer bot.
Die Schritte kamen näher. Aufgeregte Stimmen zischten und blafften sich gegenseitig an. Die Stimmung war zum zerreißen gespannt und doch nichts gegen die Anspannung in Marians Innern. Wie eine Maus, welche sich vor einem kreisenden Raubvogel verbarg, kauerte sie sich hinter einem Pfeiler nahe einer Zelle zusammen.
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...