„Ich lebe! Ich habe es überlebt!" stammelte er ungläubig vor sich hin, bevor er lauthals einen freudigen Jubelruf ausstieß. Ähnlich wie ihm erging es grade in diesem Moment noch tausend anderen Männern und Frauen. Die Schlacht war vorbei.
Die Schlacht war gewonnen, aber zu welchem Preis. Nach einer Weile legte sich die Euphorie bei ihm. Er blickte zurück, zurück auf den Weg, den er unter heftigem Artilleriebeschuss, vor Maschinengewehrsalven in Deckung gehend, zurückgelegt hatte. Der Weg, der hinter ihm lag, war in Blut getränkt und übersäht mit den leblosen Körpern der Soldaten, der Kameraden, der Freunde, seines besten Freundes. Ihre Körper lagen verdreht übereinander, nebeneinander, durchlöchert von Kugeln aus den Gewehren der sieglosen Verteidiger, zerrissen durch Granattreffer. Kaum einer der Leiber, die er erblicken konnte, war noch komplett. Arme, Beine, Köpfe und weitere Gliedmaßen waren auf brutalste Weise abgerissen worden. Ein Geruch aus Blut, Urin und Fäkalien lag in der Luft. Übelkeit stieg in ihm hoch. Alles drehte sich und verschwamm zu einem unscharfen Bild. Er musste sich setzen. Das Gras unter ihm war weich, er legte sich lang ausgestreckt hin und begann zu weinen. Seine Gefühle übermannten ihn und so rannen große Träne sein Gesicht herab und vermischten sich am Boden mit dem Blut und Unrat der getöteten Soldaten. Über ihm sah er die Sonne sich langsam aus dem Rauch der Geschosse hervorarbeiten. Ihre warmen Strahlen legten sich auf sein Gesicht, er fühlte die Wärme auf seiner Haut. Es war ein schöner Tag heute Morgen gewesen. Er war jetzt auch noch schön. Doch nicht für ihn. Schwärme von Raben flogen an der Sonne vorbei. Sie warteten. Warteten mit ihrem ausladenden Mahl beginnen zu dürfen.
Er richtete sich langsam wieder auf. Ein Sanitäter kam auf ihn zu: „Sind Sie okay?" Er nickte stumm. Doch war er es wirklich? Er schaute an sich herunter. Seine heute Morgen noch tadellos saubere Uniform, war tiefrot. Durchtränkt von Blut. Aber nicht seinem Blut, das wusste er. Der Sanitäter blieb vor ihm stehen und musterte ihn durchdringend. „Sie Glücklicher" sagte er und ging weiter auf der Suche nach Verwundeten, die seiner Hilfe bedurften. Er fühlte sich alles andere als glücklich. Er nahm sein Gewehr und schulterte seinen Rucksack. Ein Offizier brüllte Befehle, die er nicht verstand. Nicht verstehen wollte. Er wollte nie wieder kämpfen müssen. Ein grüner LKW stand zur Beförderung der Soldaten bereit. Er kletterte auf die Ladefläche, genau wie viele andere Soldaten. Niemand sprach ein Wort. Er kannte auch niemanden. Der LKW fuhr sie in ein schnell errichtetes behelfsmäßiges Lager. Das Zelt des Generalstabs sowie eine Tribüne mit Rednerpult waren mittig in dem Camp aufgebaut worden. Eine Kamera stand hinter dem Pult einsatzbereit. Sonst stand noch nichts bereit. Ein Kameramann postierte sich hinter ihr. Ein roter Punkt an der Kamera begann zu leuchten, sie lief. Der LKW hielt unmittelbar vor der Tribüne. Ein Offizier drängte sie alle zum Aussteigen, ließ sie zum Appell antreten und ordnete jedem von ihnen einen Platz zu. Ganz vorne standen die Soldaten mit den saubersten Uniformen. Er stand ganz hinten in der letzten Reihe. Ein General betrat die Bühne, zackig ging er zu dem Rednerpult, richtete seine saubere und geputzte Uniform nochmals, legte seine vorgefertigte Rede ab und blickte triumphierend auf die Soldaten herab. Die Kamera folgte seinem Blick, bevor sie wieder auf seinem Gesicht verharrte. Er senkte den Blick auf sein Manuskript und begann mit ausschweifenden Worten seine Rede. Was für ein heroischer Sieg, dies doch sei, wie glücklich sie sich schätzen durften, dieser Nation anzugehören, ... außerordentliche Tapferkeit..., Ausdauer..., Entschlossenheit..., Stärke... Er vernahm nur noch einzelne Worte aus der für das Fernsehen geschriebenen Rede des Generals. Worte des heroischen, triumphalen, einzigartigen Sieges.
Ihm wurde wieder schlecht. Eine Wut stieg in ihm auf. Wut auf die Führung, Wut auf das Soldatenleben, Wut auf alles. Er konnte nicht mehr hier stehen und dem Lackaffen da oben zu hören. Er musste weg. Weg vom Militär, weg von den ewigen Schlachten, weg von der ewigen Brutalität, weg von den Lügen für die Medien. Er drehte sich um und begann zu laufen, immer weiter und weiter. Weiter weg, vor allem nur weit weg. In den Wald. Aus dem Wald und in die Felder. Anfangs hörte er noch ein paar Rufe, aber niemand folgte ihm. Im hüfthohen Weizen brach er dann zusammen. Erschöpft lag er keuchend rücklings auf dem Boden. Er schloss die Augen und genoss die Ruhe, die Einsamkeit, die Freiheit. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. Eine alte einheimische Frau beugte sich über ihn. Sie lächelte ihn an. Ihn den Fremden, der in ihr Land eingedrungen war. Er erwiderte ihr Lächeln. Sie trug ein knielanges schwarzes Kleid mit roten Mohnblumen und einen alten gelben abgenutzten Sonnenhut. Ihre Haut war vom Wetter gegerbt, der Sonne gebräunt und von Falten durchsetzt. Sie stand auf einem Stock gestützt, ihr Rücken war gekrümmt und in ihrer freien Hand hielt sie zitternd ein frischgebackenes Brot. „Hungrig?" fragte sie und hielt ihm das Brot hin. Der Laib duftete herrlich, er konnte sehen, dass er noch dampfte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. „Ja" antwortete er und erhob die Hand, um nach dem Brot zu greifen. Blitzschnell ließ die alte Frau den Brotlaib fallen, griff hinter ihren Rücken und zückte eine Pistole. „Dann friss Blei" sagte sie und schoss ihm in den Kopf. Brotkrumen stoben auf und wurden vom Wind davongetragen. Endlich frei.
