Ihre Fingerspitzen wurden kalt und taub. Es fühlte sich an wie damals, als sie ins eisige Wasser gefallen war. Nur das diesmal niemand kam, um sie daraus zu retten. Keine Gillian, damit die Kälte vertrieben wurde und die Dunkelheit wieder dem weißen Schnee weichen konnte. Stattdessen schnürte es ihr die Luft ab und Marian schaffte es nicht, den nächsten Atemzug zu tun. Ohne Gillian umfing sie plötzlich die so gefürchtete Stille.
„Was?"
Ihr Blut rauschte in ihren Ohren, während der Wind an den Fenstern rüttelte und ein lang gezogenes Heulen durch die Lücken im Mauerwerk zog.
„Gillian wurde gehängt. Heute zur Mittagsstunde", wiederholte der Sheriff.
„Nein..." Ihr Mund wurde trocken. Diese Worte sickerten nur langsam in ihren Verstand und Marian sprang von ihrem Stuhl auf. „Nein! Das kann nicht wahr sein!"
Und er? Er saß dort und sah sie an, fern jedes Bedauerns. „Mylady. Ihr mochtet dieser Frau zugetan sein, doch das ändert nichts an den Gesetzen. Der Diebstahl von Besitztümern eines derart hochrangigen Adligen, vor allem in mehreren Fällen, grenzt gemäß den Gesetzen der Krone an Hochverrat."
„Zugetan?" Marian wollte Schreien. Sie fühlte sich, als könnte sie von innen heraus bersten vor überschäumenden Gefühlen. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie konnte es nicht glauben. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein! „Gillian war meine Freundin!" Marian konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme lauter wurde. Sie hatte Robin und ihre Mutter verloren und nun auch noch ihre einzige wirkliche Gefährtin. Wegen ein paar unwichtigen Ringen und Armbändern.
Der Sheriff verzog immer noch keine Miene. „Das ändert nichts an ihren Verbrechen, Mylady."
„Verbrechen!" Marian fühlte sich, als würde sie an dem Schmerz ersticken, der sich wie eine eisige Hand um ihr Herz legte. Sie dachte an Gillians Lächeln, ihr Lachen. Wie sie um den Honig bat und wie sich um sie gesorgt hatte. Damals, als Robin zu seinem Vater sagte, dass er sie nicht heiraten wollte, weil sie noch ein Kind sei. Dass er stattdessen in den Krieg zog. Gillian hatte sie gehalten. Ihre Tränen fortgewischt, ihr Tee gekocht und ihren verletzten Stolz genauso wie ihr Herz geheilt. Sie hatte niemand anderen, mit dem sie sprechen konnte. Niemanden, der so ehrlich zu ihr war. Und er hatte ihre einzige, wahre Freundin auf dieser Welt hängen lassen.
„Ich hätte es ihr geschenkt! Ich hätte ihr das und jede Kette in meiner Kommode, jedes Silbermesser und jede verdammte Silberkaraffe geschenkt, die sie gebraucht hätte!" Marians Stimme überschlug sich und sie konnte nicht an sich halten, mit der Faust auf den verdammten Tisch zu schmettern.„Ihr hättet ihr den Armreif Eurer verstorbenen Mutter geschenkt?"
Das letzte Quäntchen Selbstkontrolle reichte gerade dafür, ihre Faust nicht in das Gesicht des Sheriffs zu versenken. „Gillian war ein guter Mensch. Sie wollte den Leuten helfen! Meine Mutter hätte... Ich..." ihre Stimme brach sich wie eine Welle an zu hohen Felsen.
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...