Heute vor sieben Jahren war mein Mann verstorben und mit ihm auch der größte Teil von mir. Es war tief in der Nacht, der Mond stand hoch am Himmel. Vor uns erstreckte sich die raue Nordsternküste. Mein Schiff "Die Schattenruferin" ruhte im Hafen, umgeben von den Klängen der Spielmannsmusik, die aus den verwinkelten Gassen der Stadt drang. Überall torkelten betrunkene Männer herum, einige von ihnen wurden auf die übliche Art von den Gassendamen mitgeschleppt. Die Nachtluft war erfüllt von einem Mix aus salziger Meeresbrise und dem süßen Duft des Hafens. Tief atmete ich ein und ließ den Blick über die Silhouette der Stadt schweifen, während ich einen Schluck aus meiner Rumflasche nahm.
Meine Mannschaft hatte sich bereits an Land begeben, wie immer auf der Suche nach Vergnügen und Abenteuern. Ich selbst stand am Bug des Schiffes, lehnte mich an die Reling und starrte in die Dunkelheit der Nacht.
Einer meiner Schiffsjungen kehrte über die schmale Planke zurück an Bord. Obwohl er beinahe schlich, verriet das Knarren der Planken seine Ankunft. "Warum bist du nicht in einer der Schenken bei den anderen, Kleiner?" Ich erwischte ihn auf frischer Tat, und er blieb stehen, bevor er zögernd näher kam. Finley, der jüngste in meiner Mannschaft, war vor einem Jahr von einer kleinen Insel aufgelesen worden, wo man ihn ausgesetzt hatte.
Ich drehte langsam meinen Kopf zu ihm, die Ketten und der Schmuck in meinem Haar klimperten leise. "Ärgern dich Holzbein und der alte Graue schon wieder?" Respektvoll und mit einer Spur Ehrfurcht blieb er etwa einen Meter von mir entfernt an der Reling stehen und blickte über den Hafen. "Nein... diesmal nicht. Nicht wegen ihnen."
Überrascht nahm ich einen weiteren Schluck aus meiner Flasche und schaute ebenfalls wieder nach vorne. "Ich bin ganz Ohr, Kleiner. Ich werde dir den Kopf nicht abreißen, versprochen." Unsicher wippte er von einem Fuß auf den anderen und pulte nervös an seinen aufgekratzten Fingern. "Es war mir... zu laut und... Rico wurde wieder wütend." Aus dem Augenwinkel bemerkte ich seine verletzten Finger und den unsicheren Blick bei seiner wagen Aussage.
"Hör auf zu pulen, deine Finger sind schon wund. Du holst dir noch 'ne Fäule." Ich schnipste ihm gezielt den Korken meiner Flasche an die Schläfe, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Schnell zog er seine Hände zur Seite und rieb sich die Schläfe. "Entschuldigung", murmelte er.
Ich schmunzelte und richtete mich auf, seine Ängstlichkeit ignorierend. Mit einem Schritt trat ich an seine Seite und nahm meinen Dreispitz vom Kopf. Ich setzte ihm den Hut auf, und Finley zuckte ängstlich zurück, seinen Kopf einziehend, während er nach oben schielte. Mein Hut saß schief in sein Gesicht hängend auf seinem Kopf, viel zu groß für ihn.
"Na komm, wir kümmern uns um deine Finger, solange die anderen noch nicht zurück sind." Ich stellte meine Flasche auf einem der Fässer auf dem Deck ab und ging entschlossen nach hinten in meine Kajüte.
Es dauerte einen Moment, bis ich die zögerlichen Schritte hörte, die mir folgten. Doch vor meiner Kajüte hielt er plötzlich inne, wie angewurzelt an der Tür stehen bleibend. Verwundert wandte ich mich um, die Augenbrauen leicht zusammengezogen. "Was ist? Komm herein." Schluckend trat er zaghaft ein und warf einen prüfenden Blick umher. Wie viele zuvor hatte er noch nie meine Kajüte betreten dürfen. Normalerweise gestattete ich niemandem den Zutritt. Sein Blick schweifte über meine Bücher, Karten und zahlreiche kleine Schätze, bis er schließlich auf einen kleinen Tisch stieß, auf dem unter anderem brennende Kerzen standen. Er schloss behutsam die Tür hinter sich und starrte weiterhin auf einen kleinen Schädel, der zwischen den Kerzen auf einem verzierten Tuch lag.
Schwer atmend lenkte ich meinen Blick von dem Tisch ab und zog einen alten Hocker zu meiner Koje. "Komm, setz dich, Finn. Lass mich deine Finger mal ansehen." Finley, der näher an das Tischchen getreten war und eine alte, verbeulte Patrone entdeckt hatte, nickte eifrig und begab sich zu mir. "Setz dich..." Zögernd folgte er meiner Anweisung und nahm auf meiner Koje Platz, während ich seine Finger genauer inspizierte. Jeder Finger war blutig und rot gereizt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht bereits am Faulen waren.
Vorsichtig tunkte ich ein Stück Stoff in eines meiner Pflanzenöle und begann, seine Wunden behutsam zu säubern. Gelegentlich zuckte er vor Schmerz auf und zog leicht seine Hand zurück, immer wieder den Blick zum kleinen Tisch wandernd. "Serilda?" Ich wusste sofort, was er fragen wollte. Mein Herz wurde schwer, während ich weiterhin seine Finger versorgte. "Ich werde es dir ein anderes Mal erzählen, Finn. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen." Sein Blick wurde sofort mitfühlend, und er schien von selbst zu begreifen, welche Bedeutung diese beiden Dinge für mich hatten. Respektvoll verzichtete er darauf, weiter nachzufragen, und sah mir stattdessen schweigend zu.
"Ich bin überrascht, dass du so fürsorglich bist", sagte er schließlich. Langsam hob ich meinen Blick und griff nach einem meiner Messer, das neben den Stofffetzen lag. "Ich kann dir die Finger auch abschneiden, wenn es dir lieber ist." Schluckend wurde er blass und zog hastig seine Hand zurück. "N...nein... bitte nicht." Schmunzelnd hielt ich ihm meine offene Hand hin. "Dann hör auf zu reden und lass mich deine Finger verarzten." Sofort verstummte Finley und ließ mich in Ruhe arbeiten.
Nachdem ich seine Finger endlich gesäubert hatte, bestrich ich die Wunden mit Honig und band dann um jede Fingerkuppe ein Stück Stoff. "Ab morgen hilfst du Darlia beim Kartenlesen. Das wirst du tun, bis deine Wunden verheilt sind." Nickend stand er auf und verbeugte sich schnell. "Jawohl, Käpten... und danke." Eilig verließ er die Kajüte, doch mit einem Räuspern hielt ich ihn noch einmal auf, als er die Tür erreichte. "Halte draußen die Stellung, ich werde mich hinlegen. Ach, und bevor ich es vergesse: Wenn ich dich noch einmal beim Pulen erwische, sind deine Finger fällig." Ängstlich nickte er, griff zittrig nach dem Türgriff. "Aye, Käpten!" Panisch verließ er meine Kajüte, und ich seufzte schwer, während ich mir durch das Haar fuhr. War ich zu grob mit ihm gewesen?
Seufzend ließ ich mich in meine Koje sinken und blickte betrübt auf die andere Seite des Raumes zu meinem kleinen Tischchen. "Was würdest du wohl von mir denken, wenn du mich sehen könntest, Val... du wärst sicher von mir enttäuscht." Schwer atmend drehte ich mich zur Wand und umgriff den Kompass an meinem Hals. Jedes Mal beruhigte es mich, wenn ich dies tat. Es vermittelte mir das Gefühl, dass mein Mann immer noch bei mir war, so wie er es vor seinem Tod versprochen hatte.
Friedlich schloss ich meine Augen, griff blind nach meinem Dreispitz, den Finley an die Wand hinter meiner Koje gehängt hatte, und legte ihn mir über den Kopf. Mein Körper fiel wie immer in einen tiefen Schlaf, aber mein Gehör war hellwach. Ich hörte alles, was um mich herum passierte, auch das Getuschel, als einige aus meiner Mannschaft zurückkamen.
"Es wird langsam Zeit für einen neuen Käpten." "Und wer soll das sein? Du?" Dumpfes Gelächter schallte über das Deck. Es waren die Stimmen der alten Männer und meiner Maat Rina. Langsam öffnete ich meine Augen und horchten weiter dem Gebrabbel vor meiner Tür. "Serilda hat langsam ausgedient, wir sollten sie bei der nächsten Gelegenheit zurück lassen und das Schiff übernehmen." Meine Art lachte verachtend über den Spruch vom Holzbein. "Du solltest lieber deine Zunge hüten alter Mann, Seri hat ihre Ohren über all." "Kommt schon, ihr seit das ganze doch auch leid, oder nicht? Sinnlos von einem Ort zum anderen zu fahren... falsche Versprechen..." Ich hatte definitiv genug gehört. Verärgert entzog ich mich meinem Schlaf und stand leise auf. "Eine Frau gehört einfach nicht ans Steuerrad." "Sie bringt uns auf jeden Fall besser durch die See, als du es je könntest." Lautlos öffnete ich meine Tür und schlich in Windeseile über das Deck zu meinen Leuten. "Aber kommt euch das nicht auch komisch vor? Welcher Käpten verlässt nicht sein Schiff, wenn Landgang ist? Hier ist etwas Faul, und ihr akzeptiert es einfach alle."
Kaltherzig legte ich meine Pistole an den Kopf des alten Holzbeins. Alle anderen um ihn herum wurden sofort blass, als sie mich sahen, und verstummten. Niemand traute sich mehr, auch nur zu atmen. Es dauerte einen Moment, bis Holzbein verstand, was los war, und ebenfalls verstummte. Ich verdunkelte meinen Blick und entsicherte mit meinem Daumen die Pistole, welche immer noch an seinem Hinterkopf ruhte. Verärgert sah ich an meiner Waffe vorbei in sein Gesicht. "Wieso hetzt du meine Mannschaft gegen mich auf, alter Mann?" Stammelnd hob er die Hände und drehte sich zu mir. "Serilda, das... das war ein blöder Scherz." "Ganz lustig. Ich hoffe, du hörst mich lachen." Verachtend schlug ich ihm mit meiner Waffe an die Stirn, was ihn sofort zusammenbrechen ließ.
Befehlend sah ich zu meiner Mannschaft. "Raubt ihn aus. Sofort!" Hastig tummelten sich meine Leute um den alten Mann und nahmen ihm alles bis auf seine Gewandung vom Leib. "Finley, du bringst die Beute in das Fass vor meiner Kajüte! Waris, du fesselst unseren Verräter! Ihr anderen stellt euch in einer Reihe an die Reling! Und das gefälligst schnell!" Ein lautes, befriedigendes "Aye, Käpten" schallte mir entgegen, worauf jeder seiner Aufgabe nachging.
Meine Macht genießend atmete ich tief durch und beobachtete meine Mannschaft. Schnell war der alte Mann gefesselt, und ich packte ihn am Kragen, um ihn hochzuziehen. "Aufstehen!" Benebelt vom Schlag stand Holzbein langsam auf und taumelte mit mir mit. Darlia hielt entsetzt ihre Hand vor den Mund und sah weg vom Geschehen. Mit einem festen Tritt trat ich gegen die Sicherung der Planke, die aufsprang und das Holzbrett fallen ließ. "Los! Bewegung!" Mürrisch schubste ich den alten Mann vorwärts, sodass er auf die Planken stolperte. "Serilda... bitte. Lasst uns eine andere Bestrafung für ihn finden." Schweigend ließ ich meinen Blick zu meiner Kartografin wandern, die sofort wieder schwieg und sich zurücknahm.
Verachtend zückte ich erneut meine Pistole und richtete sie auf den alten Holzbein. "Meuterei brauche ich nicht auf meinem Schiff..." Finley schluckte heftig, als er sich zusammen mit Waris zu den anderen reihte. "Ab heute bist du der See überlassen, Holzbein. Du kannst von Glück sprechen, dass wir in einem Hafen sind und du vielleicht überleben wirst. Am liebsten hätte ich dich als Haifutter benutzt." Ohne lange zu überlegen, schoss ich ihm in die Schulter, was ihn taumeln und von der Planke fallen ließ. Finley drehte sich geschockt zu Waris, der ihm beruhigend die Schulter drückte. Während ein lautes Klatschen vom Aufprall ins Wasser ertönte, sah ich in die Augen meiner Mannschaft. "Noch jemand, der ein Problem mit mir hat? Wenn ja, soll er nun gehen, bevor ich ihn den Haien vorwerfe."
Verzweifelte Schreie von Holzbein erklangen, jedoch reagierte keiner von uns mehr auf ihn. Halbor, mein ältestes Mitglied, trat mit einem Lächeln hervor. Ich senkte meinen Zorn, da ich wusste, dass er schon lange aussteigen wollte. "Meine Jahre sind langsam gezählt, meine Teure. Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse, wenn wir ab heute getrennte Wege gehen werden." Tief durchatmend nahm ich seine Sachen entgegen, die er sich bereits abgenommen hatte und mir reichte. "Nein, natürlich nicht. Ich bin dir dankbar für deine Dienste, alter Grummler." Schmunzelnd nickte er und verbeugte sich ehrerweisend. Ich drückte ihm meinen Goldbeutel in die Hand und atmete tief durch. Dankbar nahm er ihn entgegen und fädelte ihn sich an seinen Gürtel. "Ich hoffe, dass ihr noch lange dieses Schiff anführt und euer Name weiterhin durch die Weltmeere spukt wie die Legende, die ihr seid." Ich musste mir mein Kichern verkneifen und schenkte ihm stattdessen ein Lächeln. Der alte Mann wusste genau, was er sagen musste, um mich aus der Fassung zu werfen.
"Leb wohl, Halbor. Ich wünsche dir einen erfüllenden Tod mit vielen Frauen und ganz viel Rum." Auflachend nickte er dankend, worauf ich meinen Arm zur Rampe auf der anderen Seite des Schiffes schwenkte. "Du hast die Strafe der Planke nicht verdient." Dankend wandte er sich ab, verabschiedete sich von den anderen und ging dann langsam durch seine alten Knochen vom Schiff. Ich werde den alten Grummler vermissen, so viel steht fest. Mein Blick wanderte zurück zu meiner Mannschaft, die ich skeptisch betrachtete. "Noch wer?" Hastig schüttelten alle sofort den Kopf, was mich nicken ließ. "Gut. Weitermachen..."
Sofort gingen alle ihren Aufgaben nach und verteilten sich auf dem Schiff. Schwer ausatmend brachte ich die Sachen von Halbor zum Fass an meine Kajüte und warf sie zu denen von Holzbein. Die weichen Schritte von Darlia ließen mich ausharren und warten, als ich sie auf mich zukommen hörte. "Serilda, ich konnte die Karte entschlüsseln." Überrascht sah ich zu ihr, während sie neben mir zum Stehen kam. "Willst du sie heute noch sehen oder..." "Ja, natürlich, zeig sie mir." Flink machte sie auf ihrem Absatz kehrt, worauf ich ihr in den unteren Teil des Schiffes folgte. Sie nahm mich mit an ihren Kartentisch und rollte dann den Schatzkartenfetzen aus, den ich ihr vor einigen Tagen überlassen hatte. "Die Insel nennt sich Tambuta. Sie liegt knappe acht Tage von hier im südlichen Raum der Himmelsbucht." Neugierig musterte ich ihre Arbeit. Sie hatte den fehlenden Teil der Karte nachgezeichnet und viele kleine Orte darauf markiert. Ich war jedes Mal aufs Neue darüber erstaunt, dass sie nur anhand von Büchern, Sagen und alten Karten all diese Arbeit machte.
"Was ist alles auf dieser Insel?" Nachdenklich sah sie auf ihre Notizen, die sie sich geschrieben hatte, und fuhr dann mit ihrem Finger langsam über die Inselkarte. "Hier oben an der Nordküste ist ein alter Tempel... weiter Richtung Westen liegt ein kleines Dorf. Es könnte inzwischen eine Stadt sein; der Stand meiner Bücher und Karten ist nicht der neueste und liegt schon Jahre zurück." Nickend musterte ich die Karte etwas und deutete auf einen Punkt am östlichen Teil der Insel, den sie umkreist hatte. "Was ist dort?" Rasch sah sie wieder in ihre Notizen und griff sich dann eines der vielen Bücher, die auf dem Tisch verteilt waren. "Dort soll es laut Sagen einen Schatz geben, den noch kein Pirat gefunden hat. Aber ich konnte noch nicht entschlüsseln, wo genau er liegt. Da arbeite ich noch dran." Sie tippte auf eine grobe Skizze im Buch, mit einer schwer lesbaren Handschrift daneben. Schmunzelnd stellte ich mich wieder auf und nickte. "Gut, dann setze dich ab morgen mit Waris zusammen, damit wir unseren Kurs setzen können. Ach so, und du lehrst ab morgen unserem Neuling deine Aufgaben." Lächelnd nickte sie zustimmend. "Aye, Käpten."
Tief durchatmend machte ich kehrt und ging zurück an Deck, wo es erstaunlicherweise sehr ruhig geworden war. Meine Mannschaft hatte sich zum größten Teil in ihre Kojen verzogen. Mein Blick schweifte zum Pier, wo an der Reling schon wieder zwei Messer steckten. Es war bei uns Brauch, dass jeder, der das Schiff zum Landgang verließ, seine Klinge und die Reling schlug, damit jeder wusste, wer noch fehlte. Langsam sah ich übers Deck und dann hoch in den Mast, wo Finley hockte und aus dem Ausguck in die Ferne starrte. Irgendwo tat mir der Junge leid. Er hatte niemanden mehr... so wie ich. Vielleicht sollte ich wirklich nicht so hart zu ihm sein. Seufzend ging ich zurück in meine Kajüte und legte mich müde in meine Koje.
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Serilda
AdventureIn den Schatten des Krieges fand Serilda Sable ihre Bestimmung. Ihr Herz brach, als ihr Mann dem Konflikt zwischen Kaiserreich und Piraten zum Opfer fiel. Doch aus der Asche ihres Verlustes erhob sie sich. Ihr Name klang bald über die Wellen, ein Fl...