Coralie-Anne war noch nie ein großer Fan ihres Namens gewesen, aber immer wenn dieses Thema zur Sprache kam, schaltete ihre Mutter komplett ab.
"Wir konnten uns einfach nicht zwischen Coralie und Anne entscheiden, Annie, ist das wirklich so schlimm?", sagte sie jedes Mal wieder, in genau demselben Wortlaut.
Oh ja, das war es für Coralie. Aber deswegen glaubte sie noch lange nicht an das was ihre Oma Claire immer sagte, dass es eine Strafe des Himmels sei, wie absurd.
Und wenn dann noch ihre große Schwester mit ihrem Allerortsnamen kam und sich aufregte, wieso es schon wieder um das Thema ging, bereute Coralie es auch schon, davon angefangen zu haben.
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Aber wie sie jetzt wieder auf dem klapprigen, alten Holzstuhl im Zimmer ihrer Großmutter saß, und sich ihre Verschwörungstheorien anhören durfte, war sie auch nicht besser dran.
Obwohl es erst nachmittags war, fielen ihr im Dämmerlicht, das durch die halb zugezogenen Vorhänge fiel, fast die Augen zu.
Claire redete leise und eindringlich auf sie ein, aber Coralie hatte im Laufe der Jahre gelernt, nicht mehr zuzuhören, wenn sie vom Weltuntergang anfing, und es nicht mehr nur um Tee und Schokokuchen ging.
Sie liebte ihre Großmutter dafür dass sie so schrullig und durchgeknallt war, so gab es immer was zu lachen, aber wenn sie auf einen einredete schaltete man besser auf Durchzug. Denn so cool und aufgedreht Claire manchmal war, so verrückt schien sie einem im, nächsten Moment.
Das erste was sie wieder mitbekam, als sie mit dem Durchgehen des Mathestoffs fertig war, war Claires Hand, dir vor ihren Augen herumwedelte.
"Annie? Süße...? CORALIE-ANNE!?"
"Was...?"
"Hast du mir überhaupt zugehört?"
Natürlich, mamie!"
"Chloe rief dich, und du hast nicht reagiert, als wärst du ganz abwesend!", dann auf einmal lehnte sie ihren Kopf ganz nah zu ihrem und schaute sie aus tiefen grünen Augen durch ihre runde Brille an. "Hat etwas von dir besitzergriffen, Schätzchen? Hast du etwas geträumt, was schlimmes? Oder eine Vision?"
Coralie blickte in ihre Brillengläser, wie in einen Spiegel und betrachtete ihre verschlafenen, grünen Augen, die genau wie die ihrer Großmutter waren.
"Nein, mamie! Ich hab mich nur daran erinnert, dass wir morgen Mathetest haben!"
Bevor ihre Oma antworten konnte, schrie von unten eine Stimme: "Cora, kommst du jetzt dann bald? Du hast Po-ost!"
Sie hatte Post? Wieso bekam sie Post? Und von wem? Schnell rief sie: "Ich komme ja schon, Chloe!" Dann wandte sie sich wieder an ihre Großmutter, "Tschuldigung mamie, ich muss runter!"
Sie sprang auf, ignorierte den umfallenden Stuhl und den verwirrten Blick Claires, stolperte nach draußen und die Stiegen hinunter.
Coralie kam holpernd vor einer schlanken, jungen Frau zum Stehen, die die selben blonden Haare wie Claire hatte, nur dass ihre dreimal länger und lockig waren. Diese beäugte Coralies verstrubbelte, rotbraune Mähne und wollte schon die linke Hand heben und sie einigermaßen glattstreichen, riss sich dann aber zusammen, als sie deren vernichtendem Blick begegnete.
"Chloe?"
"Ähm... ach so... bevor ich dir den hier gebe, wollt ich fragen... stellst du mir den mal vor? Deinen Freund? Er scheint süß zu sein...!"
Als sie sah, wie verwirrt ihre kleine Schwester dreinschaute, fügte sie hinzu: "Na, dieser Typ..."
Sie riss das Papier, das sie in der anderen Hand hatte, hoch und fuchtelte damit herum. Bis ihre Schwester ihre Hand hob, und damit Chloes wegschlug. Dafür fing sie einen beleidigten Blick ein.
"Gib schon her!"
"Ich hab ihn schon mal aufgemacht!", begann Chloe, "Du bist nicht aufgetaucht und..."
"Gib her!", sagte Coralie leise, lauernd und bedrohlich.
Ihre große Schwester hielt ihr mit einer leicht säuerlichen Miene den Brief hin und sagte: "Du stellst ihn mit trotzdem vor, ja? Ihr scheint ja nicht mehr als Freunde zu sein..."
Coralie drehte sich wortlos um und stampfte in die Küche.
Große Schwester waren echt die Schlimmsten! Vor allem, wenn sie nur ein Jahr älter waren.
Sie ließ sich seufzend auf einen Sessel am Küchentisch fallen und zog einen Zettel aus dem Briefumschlag. Auf dem Kuvert stand in der Mitte groß und zittrig: Coralie-Anne Roux, rue de fleurs 20, 94 160 Paris
Man sah, dass der Schreiber besondere Probleme mit dem französischen Teil gehabt hatte und das brachte Coralie wiederum zum Grinsen. Der Ballon hatte also doch noch zu jemandem gefunden, der ihr zurückschrieb.
Sie faltete leise lächelnd das Briefpapier auf und freute sich schon auf das was sie zum Lesen bekommen würde.
Früher hatte ihr immer eine entfernte Cousine ihrer Mutter geschrieben, die um einiges älter war als ihre maman und im Süden Frankreichs gelebt hatte. Aber als sie vor einigen Monaten vollkommen überrascht starb, hatte Coralie niemandem mehr gehabt, mit dem sie ihr Hobby hatte teilen können.
Als sie nun nicht mehr die leicht geschwungene, elegante Schrift Lucys sag, sondern die kantige, schmierige des Absenders, wurde sie ganz wehmütig und in die Zeit zurückversetzt, in der Lucy ihr noch Schokolade geschickt hatte...
Die Schrift war klein und an einigen Stellen schwer zu lesen, jedoch hatte der Absender beinahe das ganz Blatt vollgeschrieben.
Sie fasst die erste Zeile des Briefes ins Auge und begann zu lesen:
Bregenz, 20. 9. 2025
Liebe Coralie-Anne,
Mein Name ist Elias Fink, ich wohne in Bregenz, in Österreich, und ja, ich habe deinen Brief erhalten.
Der Ballon war schon etwas... sagen wir hinüber, als ich ihn aus einem Bach gefischt habe und deine Nachricht las.
Wie geht es dir?
Mir geht es eigentlich gut, wie es einem mit einer nervigen, kleinen Schwester eben gehen kann.
I mean, was ist schon schlimmer, als eine 6-Jährige, die alles mit ihrem Prinzessinnenzeug zumüllt und Tag und Nacht Einhorn spielen will? Überall liegt ihr rosa Ramsch rum, wie ist das bei dir so?
Meine Mutter kommt mit dem Aufräumen gar nicht mehr nach, und mein Vater ist eigentlich nie da. Wenn er spät abends nachhause kommt, kümmert er sich nicht darum, ob alles aufgeräumt ist, oder noch nicht entprinzessifiziert wurde.
Bis in mein Zimmer ist meine Schwester Elizabeth aber zum Glück noch nicht vorgedrungen. Ich hab ihr mal erzählt, dass bei mir alles was rosa ist abstirbt und schwarz wird, seitdem nennt sie mich nur noch den 'Einhornmörder', aber solange es wirkt, bin ich zufrieden.
Wieso ich eigentlich so mäßig gut französisch kann? Meine Mutter ist Französischlehrerin und drückt mir immer mehr Schulstoff ein, als eigentlich nötig...
Sonst ist hier eigentlich alles okay. Bei dir?
Bis bald,
Elias
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Ein Brief im Herbstwind - einer jetzt und einer aus einer längst vergangene Zeit
RomanceBriefe sind doch altmodisch, oder? Warum also welche schreiben? Weil sie dir die Welt erklären können, sie können dir Geschichten erzählen, die du dir nie erträumt hättest. Geschichten, die wirklich geschehen sind. Sie bieten dir die einmalige Mögl...