Der Mann mit den schwarzen Flügeln

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"Vater, würdest du mir bitte den Salat reichen?", fragt Josephine, während sie zum anderen Ende des sich durch den Raum erstreckenden Tisches blickt. Ihr Vater greift stillschweigend nach der Schüssel und reicht sie weiter. Das restliche Essen zieht sich bis auf das eine oder andere Schmatzen ebenso distanziert weiter, bis die beiden mit ihren Portionen fertig sind. Danach bedankt sie sich für die Mahlzeit, steht auf und entfernt sich vom Tisch. Während sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer macht, räumt Josephines persönlicher Butler ihren Platz ohne zu zögern auf, denn so wie alles andere in ihrem Leben, ist dies bereits ein jahrelang eingeübter Prozess.

Als Josephine ihre Zimmertür öffnet, sticht ihr derselbe öde Anblick wie immer ins Auge. Der große Tisch mit einer U-förmigen Einkerbung in der Mitte, damit ein Stuhl und Durchgang hineinpassen. Das Fenster, welches zusammen mit den zwei Lampen an der Wand und dem Kronleuchter in der Mitte des Raumes als Lichtquelle für Josephines Lernplatz dient. Die Tafel auf der rechten Seite des Tisches und der Stuhl, der ihrer Lehrerin das Stehen erspart. Die geschwungene Treppe in der linken Ecke vom Raum, welche verbunden ist mit ihrem Bett. Der mit unnötiger Kleidung überfüllte Kleiderschrank unterhalb von ihrem Bett, welcher der Grund für die Treppe ist. Alles an ihrem Zimmer empfand von ihrer Seite noch nie Liebe oder gar eine neutrale Laune, nur Langeweile und Hass.

Josephine pflanzt sich auf ihren Stuhl und ergreift eines ihrer Bücher. Sogleich übergibt sie ihren Körper dem Prozess des Lernens, so wie immer.

Zumindest anfangs. Nach einer Weile öffnet sie heimlich ihr Fenster und überprüfte noch einmal, ob niemand sie doch erwischen würde. Rechts... nichts. Links... nichts. Nun wagt sie es, sich am Fensterrahmen festzuhalten und sich fallen zu lassen. Dies ist nichts Neues für Josy, weshalb sie den Fall mühelos abrollt. Nach Josys Rolle folgte ein kurzer Sprint in den nahegelegenen Wald, wobei sie darauf achtet, ihre Kleidung nicht zu beschädigen oder zu beschmutzen, damit ihr Vater nichts bemerkt.

Die Route, an welcher sie gerade entlangläuft, ist ebenfalls für sie bereits eine Routine geworden. Doch im Gegensatz zu so gut wie jedem anderen Ablauf in ihrem monotonen Leben ist dies einer, den sie mit Freude verbinden kann. Den Grund für diese so seltene Emotion in ihrem Leben, würde sie schon bald auf einer zuvor bestimmten Lichtung im Wald begegnen.

"Komm schon, kannst du dich nicht ein bisschen beeilen? Es ist schlimm wie lange du brauchst!", Ruft ihr ein Junge zu, welcher bereits auf sie gewartet hat und sobald er Josy sieht,  geschwind Kurs auf sie nimmt. "Mein lieber Marek, wäre es dir denn so viel lieber, wenn man mich erwischen würde, während ich mich mit dir treffe und Reeu dann eine Horde an Butlern auf dich hetzt?", Äfft Josy ihren Butler ironisch nach. Mareks langen, goldorangenen, geschichteten Haare fliegen mit derselben Leichtigkeit durch den Wind, mit der er seinen schon immer muskulösen Körper durch die Gegend schwingt. Er bleibt nur wenige Zentimeter weit von Josy entfernt, bei denen sie mithelfen muss, indem sie sich zurücklehnt. Auf diese Distanz hat Josy keine andere Wahl als Mareks ungewöhnlich große Augen und Augenbrauen, welche sie an eine Eule erinnern, zu mustern. Dabei ist er so nah an ihr dran, dass Josy ihre Reflexion in seinen nur so vor Energie strahlenden schwarzen Augen wieder erkennen kann.

Geschlagen blickt Marek zur Seite und antwortet anfangs leise und dann wieder mit voller Energie: "Nein... aber hey, ich habe heute etwas Interessantes in unserer Wäsche zu Hause gefunden, und ich würde es dir gerne schenken."

"Wirklich? Zeig mal her!", sagt Josy aufgeregt. Dann zieht Marek ein altes T-Shirt und eine zerfetzte braune Hose aus seinem Rucksack. Er grinst sie an und fängt dann wieder an zu reden. "Es ist vielleicht nichts Besonderes für dich, aber ich glaube, dass es nützlich sein kann."

Sie schaut ihn fragend an. "Okay? Ich schätze die Geste wert, aber was genau soll ich jetzt damit anfangen? Du weißt ganz genau wie mein Vater reagiert, sobald mich einer der Butler in so einer Kleidung sehen würde."

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