1852 | 1.

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Die Revolution vor vier Jahren war gescheitert. Träume zerstört. Alles beim Alten. Der Dampf der Moderne füllte jetzt die Städte, Eisenbahnen waren die neue Kutsche und neue Naturverbundenheit blühte auf. Das Land war in die Industrialisierung eingetaucht. Problem: das Herrschaftssystem war seit Jahrhunderten gleich. Und die deutschen Fürstentümer immernoch ein Flickenteppich.

,,Euer König, Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen, ist auf Auslandsreise in Österreich-Ungarn. Berühmte Maler begleiten ihn und lichten die historischen Treffen ab. In der Zeit werden die Minister die Regierung übernehmen. Der König bittet euch, bei Volksproblemen die Herrenhäuser oder Abgeordneten aufzusuchen. Berliner Depesche, anno März 1852." ,,Nichts Neues, oder, Mutter?", fragte die junge Frau die Vorlesende. Ihr braunes Haar fiel ihr ins Gesicht, ihre lockigen Haaren lösten sich ganz langsam von ihrem Dutt. Der flache Hut mit getrockneten Blumen verbreitete den Duft von Lavendel.

,,König auf Reisen und wir sollen brav bleiben. Kriegen wir hin, Elisabeth. Berlin wird dann vielleicht für ein paar Tage ohne Soldaten auskommen..." ,,Du meinst Vater?" ,,Das hatte ich doch nicht gemeint, Liebes. Aber freu dich, der Frühling beginnt und wir werden bald wieder Bootfahren können! Der Rauch wird vergehen, die Wiesen entstehen und wir gehen zu den Seen!", die ältere Frau lachte, als wäre sie dreißig Jahre jünger. Elisabeth grinste und rückte ihren Hut zurecht.

,,Mutter, es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen. Ich will noch in die Natur, das schickt sich doch jetzt so. Ein Spaziergang tut meinem zarten Körper doch auch mal gut-", sie zwinkerte. Ihre Mutter nickte und verabschiedete sich von ihr, während sie die Dienstmädchen rief. Das Mädchen hob ihr Kleid an und stand auf, voller Tatendrang, etwas zu erfahren.

Mit Sorge hatten sie die Bediensteten nach draußen begleitet. Aber das war unnötig, es sollte doch nur ein kurzer Spaziergang zum See werden- zum Wannsee.

Elisabeth war eigentlich ein ganz normales Mädchen. Abgesehen davon, dass sie ein reiches Erbe hatte... Ihre Familie hatte ein großes Unternehmen für Spinnutensilien, was jetzt immer dringender benötigt wurde. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wuchsen die Fabriken um Berlin und ganz Preußen, manchmal rauchte es so sehr, dass sie nicht mehr richtig atmen konnten. Sie blieben dann in ihrer Villa, und die Bediensteten taten alles, um die zwei Frauen und ihr Wohlbefinden zu sichern. Und ihr Vater? Der war in den Wehrdienst eingezogen worden. Ursprünglich wegen der Revolution, dann wegen den Kriegen im Norden und dann... dann war er weg. Verloren. Ob er tot war? Wusste man nicht.

In der Zeit der Abwesenheit würde sein Cousin dritten Grades die Geschäfte führen. Niemand aus Elisabeths Hause hatte ihn länger als einen Tag gesehen, dann war er wieder aus geschäftlichen Gründen woanders eingekehrt. Weg von der Hauptstadt und Elisabeths Vater.

Elisabeth wusste nicht mehr richtig, wie er aussah. Aus Respekt sprachen sie nicht mehr über ihn. Ihre Erinnerungen waren so verschwommen, dass sie sich nur noch an seinen müden Blick erinnern konnte. Und an seine Worte nach der letzten Zigarette: ,,Vielleicht ist es besser so. Besser, dass ich in den Krieg gezogen bin. Weg von einer Frau, die ich nicht lieben kann und einer Tochter, deren Vermächtnis ich nie ertragen werde."

Sie hatte diese Worte nie verstanden. Liebte er ihre Mutter nicht? War es doch nie die Liebesheirat gewesen, von der sich Haus Stolzenburg immer erzählte? Es wurde seitdem versucht, zu vergessen. Aber sie war die Tochter ihres Vater. Sie würde herausfinden, warum er gegangen war. Ohne dass ihre Familie davon erfahren würde - da war Elisabeth sich sicher.

Gedankenverloren ging sie umher, während ihr Kleid das Gras streifte und es platt drückte. Die moderne gepflasterte Straße würde sie nicht dreckig machen, vielleicht konnte sie noch ein bisschen länger bleiben - ohne, dass sie von den Dienstmädchen für ihre dreckige Kleidung Tadel bekam.

Einem Herr aus ihrer Schicht machte sie einen Knicks, den älteren Frauen mit noch bunteren Kleidern lächelte sie zu. Ganz automatisch griffen ihre Hände nach hinten, um ihren Dutt zu richten.

Plötzlich sah sie einen dunkelbraunen Vogel mit quietschgelben Schnabel, der umherhüpfte und auf den Boden trampelte. Das Amsel-Weibchen versuchte zu erkennen, was unter ihr war. Schnell senkte sie ihren Kopf nach unten, als würde sie einem geheimen Gespräch lauschen. Immer wieder versuchte sie es, aber sie blieb erfolglos auf dem harten, trockenen Boden. Das Mädchen schloss kurz die Augen, um sich neu zu konzentrieren. Und dann war die Amsel wieder verschwunden, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.

Bald war Elisabeth wieder zuhause. Die Dienerinnen flüsterten ihr zu, sie solle gefälligst leise sein. Die Herrin hätte doch gerade Stress, sie sollte ihre Mutter lieber nicht stören. Sie hob ihr Kleid an und schlich leise die Steintreppen hinauf.

,,Ich werde meine Tochter nicht in deine schmutzigen Hände geben! Niemals. Du wirst ihr nichts erzählen, und das Geheimnis von Josef erst recht nicht! Also, tu mir den Gefallen und verlasse mein Haus. Auf der Stelle."

Daylight / Historical RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt