Es war eine absurde Sprache, die Elisabeth nicht verstand. Sie überlegte. Klangen nicht so die Engländer? Oder die Ostfriesen? Oder doch die Franzosen?
,,Wie bitte?", fragte sie, während ihre Augenbraue wackelte. Das Mädchen vor ihr zupfte ungewohnt an ihrem Rock. ,,Na, so ein Ding, mit dem kannst du andere Leute anrufen...", Elisabeth runzelte mit der Stirn, ,,also, du hörst da drin andere Leute...?"
Noch verwirrter antwortete sie: ,,Entschuldigung? Ich verstehe nicht, was du meinst. Aus welchem Herrschaftsgebiet kommst du und wer bist du?" Sie war neugierig, was es mit diesem Hand-Dings auf sich hatte.
,,Ich bin...", sie schien zu überlegen, ,,Jessica. Aus Deutschland, Berlin. Und du?" Jess gab ihr die Hand, aber Elisabeth konnte nicht erwidern. Sie war sprachlos und überlegte sich nochmal genauer, ob die schwarzen Haare des Mädchens doch aus einem fernen Land stammten.
,,Elisabeth aus Preußen, ich gehöre zu der Familie Stolzenburg. Wir liefern Spinnutensilien für die Verbesserung unseres Landes. Ich bin wohnhaft in Berlin mit meiner Mutter, Marie Stolzenburg. Was soll Deutschland sein? Meinst du die germanischen Vorfahren von uns allen?", sie leierte alles herunter, was die Etikette besagte. Doch dann fühlte es sich falsch an. Unglaublich falsch. ,,Warum schaust du so? Was ist los?" Sie stockte.
Wie in Trance wiederholte Jessica: ,,Spinnutensilien...Preußen...was... Alles gut, Elisabeth Stolzenburg. Okay, unabhängig von politischen und ideologischen Meinungsäußerungen: Wo ist dein Vater? Wenn du schon so redest, dann fehlt doch da etwas?"
Die beiden begannen zu gehen, bereit, sich zuzuhören. Schüchtern erzählte Elisabeth von ihrem Vater und Jess von ihrer Mutter. Auch wenn sie so unterschiedlich waren, war das eine riesige Gemeinsamkeit, die sie irgendwie verband.
,,Dein Kleid ist sehr schön. Aber ist das nicht zu eng?", fragte Jessica interessiert.
,,Ein bisschen. Also, ja, schon sehr. Aber ich trage normalerweise viel engere Kleider, meine Mutter schafft sogar mindestens das Doppelte! Aber du siehst auch toll aus. Mein Strohhut steht dir bestimmt-", sie setzte ihn ab und rückte ihn auf den schwarzen Locken zurecht. Beide kicherten und Jessica versuchte, zu knicksen.,,Hey, du machst das falsch! Hier, so macht man das!", Elisabeth ging langsam nach unten, perfekt wieder nach oben. Dann hob sie ihren Kopf, und blickte in das Gesicht des seltsamen Mädchens, das laut prustete. ,,Ich seh da keinen Unterschied!", sie lachte weiter und reichte ihr die Hand.
Unbeachtet von den Blicken der Menschen, rannten sie weiter. Elisabeth vergaß ihren Vater und diesen ganzen Streit, der sich an diesem Morgen noch tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte.
Plötzlich blieb sie stehen. ,,Was ist?", fragte Jessica. ,,Oh Gott, ich muss zurück. Es ist schon Nachmittag und die Bediensteten suchen bestimmt schon nach mir. Verdammt! Ich muss los, auf Wiedersehen!" ,,Ich komme mit, ich möchte schließlich sehen, wo du wohnst", antwortete sie, während Elisabeth die Augen verdrehte.
Sie verließen das Gebiet des Wannsees und kamen schlussendlich vor einem großen Stadtteil an, wo sich Villa an Villa reihte. ,,Wow! So altmodisch und schön!" ,,Was redest du da für einen Unsinn? Das ist hochmodern, schau mal, das ist eine Petroleumlampe mit Öl aus den Vereinigten Staaten. Stell dir mal vor, welchen Weg das genommen hat!", erwiderte sie und stellte sich vor, wie es in Amerika wohl aussehen würde. ,,Cool?" Elisabeth gab es endgültig auf, sie zu verstehen.
Sie versuchte, die Tür zu öffnen, während Jessica laut klopfte und lachte. ,,Hör auf!", tadelte die Tochter des Hauses - aber auch sie musste lachen, als Jess sich gegen die Tür warf. Es machte immernoch niemand auf. Wo zum Teufel blieben die Bediensteten? Das fragte sich ihre neue Freundin wahrscheinlich auch, und versuchte, einen Blick durch die Fenster zu erhaschen. Nichts war dort zu sehen.
Schließlich öffnete Marie, die Herrin des Hauses, die Tür. ,,Mutter? Was tust du hier - wo sind die anderen?", entfuhr es Elisabeth. Ihre Mutter schien gar nicht zu bemerken, dass noch jemand neben ihrer Tochter stand. Ihr Gesicht verdunkelte sich, sie schloss langsam die Augen.
,,Er hat uns endlich gekriegt. Er hat die Firma für uns vollständig übernommen, während er... er ist tot. Sie haben die Leiche."
,,Wovon sprichst du? Du kannst doch nicht Vater meinen, oder?"
Niemand unterbrach die Stille.
,,Doch. Josef hat Selbstmord begangen. Dort oben an der Grenze, preußische Soldaten haben ihn erkannt... Unser Vormund will jetzt alles tun, um unser Vermögen zu erben - dieses Schwein!"
Jess nickte hektisch und versuchte, nicht einschreiten zu müssen, während Elisabeths Mutter ihre Ausführung beendete.
,,Aber wir können nichts dagegen tun... Ich musste ein paar der Bediensteten entlassen. Das wird teuer für uns. Warum bist du eigentlich erst jetzt hier?"Das war der Moment, wo Elisabeth auf die Knie fiel. Schluchzend versteckte sie ihr Gesicht in ihrem Kleid und murmelte: ,,Ist dir das Geld wichtiger als Vater? Musst du sofort so tun, als wäre das Unternehmen unser einziges Problem? Das kannst du nicht - das kannst du nicht tun!" Sie schrie fast, während ihre Augen sich weiterhin mit Tränen füllten.
Ihre schwarzhaarige Freundin meldete sich zu Wort. ,,Können wir bitte reingehen? Frau Stolzenburg, ich hatte ihre Tochter aufgehalten, es gab einen wichtigen Vorfall. Und außerdem müsste ich mal ganz dringend - Danke." Erleichtert schlüpfte sie durch die Tür. Elisabeth sah auf und betrat dann ebenfalls das Haus, sie stützte sich an ihrer Mutter.
Die nächsten Stunden bekam sie gar nicht mehr mit. Die drei Frauen aßen zusammen, während Jess aushalf und etwas von einer Handelsgelegenheit erfand, die selbst auf die Hausherrin etwas naiv wirkte. Sie schien aber zu verstehen, dass diese junge Dame eine Bereicherung für den Haushalt sein konnte. ,,Vielen Dank. Ich habe noch eine Bitte: ich finde diese Nacht nicht mehr zurück, also- ich habe keine Bleibe momentan... kann ich bei Ihnen übernachten? Natürlich mit Entschädigung, ich werde helfen!" Sie diskutierten, bis ihre Freundin bleiben konnte. Zwar in einem viel zu kleinem Zimmer, aber das schien erleichternd für die Fremde zu sein.
Nach dem Essen stupste Jess Elisabeth noch einmal an.
,,Hey, welches Zimmer?"
,,Hm?"
,,In welchem Raum hier schläfst du?"
,,Du willst doch nicht etwa - nein, mein Bett will ich nicht teilen. Kommt nicht infrage. Bitte geh!"
,,Nein, ich dachte, ich kann nochmal kurz reden... Ich habe so viele Fragen. Vielleicht lenkt dich das ab!"
,,Alles klar, aber wenn du dich zwei Meter Abstand zu meinem Bett nicht einhältst-"
,,Werde ich nicht, versprochen. ...Und, welches Zimmer?"
,,Zweiter Stock, oben rechts."
Sie seufzte und fragte sich, von welchem Stern diese Person wohl kommen musste.Kurz vor Mitternacht war die ganze Villa still. Alle waren beschäftigt und in ihren Betten, um nochmals zu realisieren, dass sich ein entscheidender Punkt in ihrem Leben geändert hatte. Josef Stolzenburg war tot. Elisabeths Vater und Maries Ehemann war verstorben. Es war ein einfacher Gedanke, der seine hinterlassene Tochter nicht schlafen ließ. Zudem wartete sie noch, bis Jessica kam - ihre Rettung.
Später saßen die beiden Mädchen auf den Holzdielen und redeten. Über Familie und wen sie gerade vermissten. Was war wichtig im Leben? Und irgendwie kamen sie doch wieder auf die Anfänge zurück. ,,Kannst du mir nochmal sagen, welches Jahr es ist?", bettelte Jess, obwohl sie es schon dreimal mindestens gehört hatte. ,,Achtzehnhundertzweiundfünfzig!", frustriert fragte sie sich, wann das wohl aufhören sollte. Wie ein kleines Kind wurden ihr Fragen gestellt, die Elisabeth beantwortete.
,,Wie findest du Friedrich Wilhelm so?"
,,Wer ist dein Crush- äh, welche berühmten Leute findest du krass?"
,,Lieblingstier?"
,,Frauen in eurer Gesellschaft werden voll scheiße behandelt, findest du nicht?"
Und dann sagte Jessica auch mal etwas, was sich wie eine Antwort anhörte.
,,Heute ist nämlich mein Geburtstag, also eigentlich. Da, wo ich herkomme..."Erstaunt schaute Elisabeth sie an. ,,Glückwunsch, aber, wenn ich fragen darf... wo kommst du her? Ich meine, du hast mir bis jetzt immer noch keine Antwort gegeben. Musst du natürlich nicht, aber..." Ihr Gegenüber schüttelte vehement den Kopf. ,,Nein, ich will das sogar sagen... Ich komme aus demselben Land. Nur aus einer anderen Lage, Dimension, wie soll ich das beschreiben! Warte kurz, wo finde ich Papier - habt ihr das?" Müde erwiderte sie, dass sie es nebenan im Bad finden würde. Dort ging sie auch hin, bis ihr Gespräch plötzlich von Glocken unterbrochen wurde...
Dann war absolute Stille.
,,Jess? Jessica? Was ist passiert, ist alles gut?" Hektisch stand Elisabeth auf, öffnete die Tür und realisierte, dass sie nicht mehr da war. Nichts deutete darauf hin, dass hier eben noch ein Mädchen mit schwarzen Locken sich über das letzte Stück Papier gefreut hatte.
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Daylight / Historical Romance
Teen Fiction,,Und verdammt, wenn ich nur wüsste, wie du über mich denkst... Bei anderen interessiert es mich nicht. Bei dir schon." Wenn Gegenwart und Vergangenheit aufeinander treffen, geht das meistens nicht gut. Dachte ich zumindest. Am Ende der Woche, zwisc...