Prolog

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Stur die Augen auf den kiesigen Grund gerichtet, schritt sie immer weiter voran. Sie musste ihr Ziel nicht sehen, um zu wissen, dass es nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Als sie dann endlich an dem verrosteten Tor zum Halt kam, blieb sie vorsichtshalber stehen und wandte ihren Kopf. Doch ihre Sorge war unbegründet gewesen. Noch immer war sie allein, niemand war ihr gefolgt. Scheinbar unberührt lag der schmale Feldweg hinter ihr, schlängelte sich durch die halbtoten Bäume, bis er sich weit hinter ihr zwischen den dürren Stämmen verlor. Durch die nackten Zweige zeichnete sich der graue Himmel ab, als wäre es bereits Winter. Das einzige Anzeichen auf Leben hier draußen war das dichte Gras, das den Pfad säumte, alles wild überwuchert , wo seine kleinen Wurzeln nur halt fanden.

Auch das Tor hatte sich das Gras zu eigen gemacht. Sie musste sich erst einige Sekunden dagegen stemmen, bis es endlich vom dichten Gestrüpp freigegeben wurde.

Sorgsam schloss Dora das Tor hinter sich. Sie war jetzt in Sicherheit. Wenigstens für den Moment.

Nach Verfall roch es auf dem schmalen Hof, der sich vor ihr auftat. Mit vorsichtigen Schritten überquerte sie die verwitterten Steine, als könnte einer von ihnen jeder Zeit zu Staub zerfallen. Viele der Mauern, die diesen verlorenen Ort umgaben, waren schon vor Jahren der Zeit zum Opfer gefallen, die verbliebenen verwittert. Thea liebte es hier, bildete sich ein, es lag daran, dass sie hier auch als Kind schon gewesen war- damals, als ein Mensch noch ein Mensch war. Doch selbst das blieb nur eine vage Ahnung. In Wahrheit jedoch war der einzige Grund, warum sie dieses traurige Abbild der Vergangenheit mochte, der Verfall selbst. Zu beobachten, wie auch Eisen und Granit vor der Zeit nicht gefeit waren.

Weiter hinten, abseits des rostigen Tors, lagen Reihen um Reihen von Gräbern. Auch hier hatte Wind und Wetter vor den Grabsteinen nicht Halt gemacht, die meisten der Namen waren längst von Moos bedeckt und nicht mehr zu entziffern. Trotzdem steuerte Thea zielsicher auf eines der überwucherten Gräber zu. Sie kauerte sich hin, nahm einen schweren Flusskiesel auf, klopfte Erdreich und Flechten ab, betrachtete einige Sekunden lang liebevoll die farbige Oberfläche.

Ein Spatz, laienhaft auf die wassergeschliffene Oberfläche gemalt sah ihr aus ehrlichen Augen entgegen. Dieses Bild musste Jahrzehnte alt sein, dabei wirkte es in seiner Naivität irgendwie kindlich. Runde Augen, ein kleiner Schnabel, weiches braunes Gefieder auf dunkelgrünem Grund. Ja, dieses Bild weckte in ihr eine längst vergessene Vorstellung von Wärme und Schutz, welche für immer mit diesem bizarren Ort verbunden waren . Mit dem Stein, der die Erde beschwerte, mit Efeu und Moos und toten Bäumen.

Dieser Spatz war einmal das einzige gewesen, das sie zu geben hatte. Das war lange her, doch die Erinnerung war noch immer tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Wie sie an einem Sommertag hier gestanden hatte, die Sonne so brennend, alles flimmerte. Um sie herum waren so viele, und doch war sie allein gewesen, als sie diese eine Rose in die Grube warf. Sie kniete hin, tat ihre Pflicht, sah aus stumpfen Augen. Erst viel später war sie zurückgekommen, kein heuchlerisch sonniges Wetter, sondern morgendlicher Nebel lag diesmal über dem Friedhof. Diesmal war es der Stein gewesen, dem sie still ein neues Zuhause gab.

Heute fühlte es sich fast so an, als hätte der Spatz immer schon an dieser Stelle gelegen.

Hastig wischte sie eine Träne vom Stein, legte ihn zurück an seine angestammte Stelle und atmete tief durch. Dann gab sie sich einen Ruck, prägte sich ein letztes Mal jedes Detail des zerfallenen Grabes ein. Seufzend fuhr sie sich durch ihr kurzes Haar und zog den Mantel enger um ihren schlotternden Körper. Sie war schon viel zu lange geblieben. Bald würde es dunkel werden.

 Thea machte kehrt und ging ohne zurückzublicken. Aus den Ästen über ihr löste sich ein Blatt. Es fiel sanft, wurde aufgewirbelt, segelte weit davon. Über marode Mauern hinweg. Tanzend in die graue Luft hinein. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 31 ⏰

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