Die letzte Flasche Ketchup

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»Das ist unsere letzte Flasche Ketchup.«

Er schluckte schwer und trommelte mit seinen Fingern eine nichtssagende Melodie auf dem Aluminiumdeckel, um das Zittern zu verbergen. Der Countdown stand auf Null. Und sie wusste es. Das konnte er an dem tiefen Krater über ihrer Nase erkennen. Ihr Gehirn mochte so porös sein wie ein Knäckebrot, aber eine sterbende Elefantenkuh spürte, wenn es zu Ende ging.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mein Familienrezept nicht verunglimpfen sollst?«
Mable schürzte die Lippen und machte dabei ein schmatzendes Geräusch. Er hasste es, wenn sie mit der Zunge an ihrer Prothese herumspielte, so lange, bis sie mit einem feuchten Husten im Müllzerkleinerer landete. Direkt neben fauliger Fischhaut und ausgetriebenen Kartoffeln.
»Das ist kein einfacher Ketchup! Mein Urgroßvater hat die Pfefferkörner für den Roller Pepper noch mit eigenen Händen vom Handelsdampfer geschleppt. Das Rezept werde ich mit ins Grab nehmen, wie jeder meiner Vorfahren auch. Und jetzt zieh deine Uniform an, wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren, Toby!«

Mable und ihr Roller Pepper. Laut der Rückseite der Speisekarte war die säuerliche Barbecuesauce schon immer das Aushängeschild vom Diner gewesen. Ob zum Hackbraten, Käsesteak oder zu Eiern mit Bratkartoffeln - niemand kam an Mables Sauce vorbei. Auch, wenn es in Wahrheit bloß Ketchup war. Und es war die letzte Flasche.

»Bring das zu Tisch 3, aber zackig. Frank und Judy warten schon seit einer halben Stunde auf ihr Frühstück.«

Ohne Widerworte zu geben, nahm er die heißen Teller entgegen, gab der Pendeltür mit seinem Hintern einen Stoß und rollte über das polierte Vinyl hinaus ins Restaurant. Das schwarzweiße Schachbrettmuster und der beißende Geruch von Chlorbleiche trieben ihm die Tränen in die Augen. Die Gummiräder quietschten als er sein Gewicht nach links verlagerte und zwischen den Tischen hindurch auf eine gepolsterte Sitzgruppe ganz hinten im Diner zusteuerte. Laut Mable war der Tisch ihr Stammplatz. Sie würde es nicht dulden, wenn er Frank und Judy an einem anderen Tisch bediente. Er platzierte die Teller gegenüber voneinander, stülpte die Kaffeebecher herum und musterte das heutige Frühstück: Ein verkrusteter Topfreiniger, zwei grau fleckige Maiskolben, ein abgeleckter Deckel eines Erdnussbutterglases, in der Mitte ein großer Klecks Roller Pepper. Wäre sein Herz aus Glas, so wäre es in diesem Moment zersprungen.

Die letzte Meldung über das Fortschreiten der Seuche war schon Wochen her. Am Anfang empfingen sie die typischen Warnhinweise übers Telefon und die Lautsprecherdurchsagen der Nationalgarde. Aus den täglichen Patrouillen wurden Wochen, 1 Monat, 2 Monate. Dann kam niemand mehr hierher. Laut dem nationalen Exitplan sollten nach Washington D.C. und den Millionenstädten New York, Los Angeles und Chicago die restlichen Bundesstaaten folgen. Dann brach das Chaos aus. Und die Welt war eine andere.

Ihm war übel. Er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Das bisschen Urin, was er noch ausschied, war dunkelgelb, und ein süßlicher Flaum machte sich auf seiner Zunge breit. Mables Zustand hatte sich von Tag zu Tag verschlechtert. Seit Wochen hatte sie keine Medikamente mehr bekommen. Und die salzarmen Cracker und die dünne Tomatensuppe reichten nicht aus, um ihren Elektrolythaushalt zu stabilisieren. Mable starb zu langsam. Doch heute hatte er die letzte Flasche Ketchup aus der Vorratskammer geholt.

»Denk daran, das Schild draußen anzuschalten! Judy hat mir eben gesagt, sie wären fast an uns vorbei gefahren, weil sie dachten, wir hätten geschlossen!« Mables Stimme hallte von den Wänden zu ihm herüber und versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube.

Frank und Judy hatten das Roller Diner vor ein paar Tagen betreten. Mable behauptete, sie kämen aus Texas und seien nur auf der Durchreise. Doch die Wüstenblüte habe sie dazu verleitet, sich länger in Kalifornien aufzuhalten. Und so blieben sie. Vor ihnen hatte es einen Trucker aus Alaska gegeben, der laut Mable für ein gutes Thunfischsandwich hätte töten können. Darauf folgte ein frisch verheiratetes Paar auf der Durchreise nach Las Vegas, ein namenloser Wanderer und eine Gruppe Pfadfinder, die tonnenweise Pfannkuchen verdrückten. Das Diner war zu Mables Puppenhaus geworden. Und er würde mitspielen, solange es ging.

Er drehte sich auf der Stelle, vorsichtig, damit ihm nicht schwindelig wurde, und streckte die Hand nach dem Schalter neben der Tür aus. Ein leises Knistern verriet ihm, dass der Neonschriftzug über dem Eingang angesprungen war. Überprüfen konnte er es nicht. Fenster und Türen waren schon lange mit altem Zeitungspapier und Brettern verrammelt worden. Die Letzte von Mables Kellnerinnen war mit dem Lieferwagen durchgebrannt. Danach war er keinem Menschen mehr begegnet. Außer Mable. Und so sehr er diesen Ort mitsamt seiner Barbecuesauce auch hasste - er würde Mable nicht alleine lassen. Bis zur letzten Flasche Ketchup.

Seine müden Augen huschten über die verblassten Zeitungsseiten, verfingen sich in todbringenden Schlagzeilen und Bildern der Verwüstung, und er spürte, dass es Zeit war. Es würde niemand kommen. Frank und Judy waren die letzten Gäste für heute.
Die Schnürsenkel seiner Rollschuhe ziepten an den Schienbeinen und leise fluchend ging er in die Hocke, um seine schmerzenden Füße zu massieren. Als er sein drolliges Spiegelbild im Sockel des verchromten Tresens entdeckte, hielt er kurz inne, und stieß dann ein kehliges Lachen aus, immer und immer wieder, bis ihm die Tränen in die Augen schossen und er vor sich selbst auf die Knie fiel. Wie oft hatten ihn diese roten, berollten Ausgeburten der Hölle in den Wahnsinn getrieben! Mable hatte ihre Kellner immer gut behandelt. Aber die Rollschuhe waren ein Muss. Herzlich willkommen im Roller Diner - der Ort, an dem Amerika noch nach Amerika schmeckt!

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Mable brauchte nicht zu wissen, was er vorhatte. Es würde schnell gehen. Seine Hände waren ganz ruhig, als er die Teller abräumte und Mables Frühstück lautlos in einem Eimer hinter der Theke verschwinden ließ.
»Hat es Ihnen geschmeckt? Gib es zu, Frank will bestimmt noch einen Nachschlag. Er kann nicht genug von meinen Kochkünsten kriegen, hat Judy mir verraten!«
»Die beiden lassen sich entschuldigen, aber sie müssen zurück nach Texas. Sie haben versprochen, uns wieder zu besuchen, wenn sie wieder im Lande sind.«
»Oh, das ist wirklich schade.« Mable zuckte mit den Schultern und lächelte. »Aber es werden andere kommen. Das Roller Diner schläft nie!«

»Ich denke, wir können für heute schließen. Es ist nicht so viel los auf den Straßen. Ich kümmere mich um den Abwasch, Mable«, sagte er und legte den Arm um ihre Schultern. »Wir sollten uns mal die Vorratskammer ansehen. Ich glaube, wir haben keinen Ketchup mehr.«
Mable schüttelte den Kopf, die spärlichen Haare flatterten um ihre Ohren. »Kein Ketchup!«
»Natürlich Mable, kein Ketchup.« Er führte sie nach hinten, wo sie ihre Matratzen hatten, und drückte sie sanft, aber bestimmend auf einen alten Campingstuhl. Mit den Fersen streifte er sich die Rollschuhe von den Füßen und verstaute sie sorgfältig in einem tiefen Regal. Als er mit den Gummirollen gegen den Lauf der Waffe stieß, schloss er für einen kurzen Moment die Augen. Es würde niemand kommen.

»Achte nächstes Mal darauf, dass du mehr von den Süßkartoffeln bestellst, Toby. Ich möchte ein neues Rezept ausprobieren. Judy und Frank werden begeistert sein!«
Er rückte näher an sie heran, eine Hand auf ihrer Schulter, die andere versteckt hinter seinem Rücken. Es würde niemand kommen.

»Und das war wirklich die letzte Flasche?«
Er nickte. »Ja Mable, das war die letzte Flasche.«
»Wirklich ein Jammer.« Sie rümpfte die Nase und wippte mit ihren Füßen auf und ab. »Darf ich dir ein Geheimnis verraten, Toby?« Sie neigte ihren Kopf, schmiegte sich an seine Schulter und schloss die Augen.

Dann flüsterte sie leise: »Es war wirklich nur Ketchup.«


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