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Triggerwarnung:
In diesem Kapitel werden Gewaltszenen beschrieben.

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Ich drehe mich auf die Seite und greife nach meiner Armbanduhr, welche auf meinem Nachttisch liegt. Die noch funktionierenden Zeiger verraten mir, dass es bereits vier Uhr am Morgen ist. Meine Schicht habe ich bereits vor drei Stunden beendet und ich bekomme kein Auge zu. Obwohl meine Augen vor Müdigkeit schwer wie Blei sind, bin ich hellwach. Zu viele Gedanken kreisen in meinem Kopf herum. Ich zweifle schon an meiner eigenen Wahrnehmung. War das wirklich Joel? Ja, das muss er gewesen sein! Aber was macht er hier? Und wer ist dieses Mädchen? Es war definitiv nicht Sarah. Gleichzeitig verspüre ich so etwas wie Erleichterung wenn ich daran denke, dass er noch am Leben ist.

Ich drehe mich wieder auf den Rücken und lege meinen Arm über die Stirn. Als ich die Augen schließe, schießen mir die Bilder von früher in den Kopf. Um genau zu sein die Bilder von vor zehn Jahren. Die Bilder von einer Zeit, als die gerade herrschende Pandemie nicht mal in den dunkelsten Fantasien der Menschen existierte.
Ich sitze am großen Küchentisch der lichtdurchfluteten Küche eines üblichen Reihenhauses mitten in Texas. Neben mir sitzt Sarah. Ein kleines Mädchen, welchem ich wie jeden Dienstag und Donnerstag nach der Schule bei den Hausaufgaben helfe. Um Punkt sechs Uhr abends hören wir die Geräusche eines Schlüssels und die Schritte eines Mannes. Des Mannes, in dessen Küche ich sitze und dessen Tochter ich helfe. Des Mannes, dessen Name Joel ist.

...

Ein lautes Klopfen lässt mich aufschrecken. Ich sitze kerzengrade in meinem Bett, während sich meine Augen langsam an die Helligkeit in meinem Zimmer gewöhnen. Ich muss eingeschlafen sein. Ein schneller Blick auf die Uhr verrät mir, dass es tatsächlich acht Uhr morgens ist. Ich reibe mir über die Stirn und seufze, bevor ich mich aus meinem Bett schäle und leisen Schrittes zur Tür gehe. Mein Herz schlägt stark unter meiner Brust. Hier kann man einfach niemandem trauen.

Wer ist da?", frage ich also vorsichtig. Mein Herzschlag überspielt die Stille in diesem Moment.

Lauren. Jetzt mach schon auf!", höre ich eine leise Stimme. Erleichtert atme ich auf und öffne die Tür.
Schnell betritt Lauren mein Zimmer, bevor ich die Tür wieder schließe und verriegle. Sicher ist sicher.

Und? Hast du etwas herausgefunden?", frage ich aufgeregt und lasse mich neben Lauren auf mein Bett fallen.

Naja. Also, nicht wirklich. Die beiden wollen nicht mit ihren Namen rausrücken. Ich habe alle Wachen gefragt, zu denen ich Kontakt habe. Selbst das Versorgungsteam, welches sich um die Kleine kümmert. Aber nichts", fängt sie an.

Das war's? Mehr Informationen hat sie nicht? Langsam atme ich aus und schaue enttäuscht auf meine Hände, an denen sich durch mein nervöses Knibbeln schon kleine Hautfetzen lösen.

Hey. Ich habe nicht gesagt, dass ich nichts habe", höre ich Lauren sagen und sie zwinkert mir zu als ich hoffnungsvoll in ihre blauen Augen schaue.

Er sagte so etwas wie, dass er nicht den weiten Weg von Texas hier hergekommen sei, um sich wie ein Stück Scheiße behandeln zu lassen", fährt sie fort. Texas. Und die Ausdrucksweise klingt auch nach Joel.

Das muss er sein", sage ich kaum hörbar und starre in die Leere vor mir. Ich stehe völlig neben mir. Wie lange habe ich Joel nicht mehr gesehen? Es ist ein unglaublicher Zufall, dass er ausgerechnet hier gelandet ist.

Hey, ist alles in Ordnung?", fragt mich Lauren und legt besorgt ihre Hand auf meine Schulter.

Was? Ehm ja. Es ist nur ...", beginne ich und mache eine kurze Pause.

Ich habe früher so viel Zeit bei den Millers verbracht. Die kleine Sarah ist mir richtig ans Herz gewachsen. Das Mädchen dort ist nicht Sarah. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was passiert ist. Und Joel ... ich hatte eine ganz besondere Beziehung zu ihm ...".

Ganz besondere Beziehung also, ja?", unterbricht mich Lauren und hebt die Augenbrauen. Ich wusste, dass das kommt.

Nicht SO eine Art von Beziehung", versuche ich es sofort richtigzustellen. Doch auch wenn ich versuche an meine Worte zu glauben, kann ich es einfach nicht leugnen. Er hat mir seit dem ersten Tag gefallen. Und die Zeit die ich mit seiner Tochter und ihm verbracht habe, hat der ganzen Sache nicht abgetan.

Jedenfalls ... ich muss ihn sehen", sage ich und stehe auf um ans Fenster zu gehen. Ich schiebe die verschlissenen Gardinen zur Seite und wage einen Blick auf die Straßen unter uns. Es ist nicht viel los. Vielleicht könnte ich ...

Vergiss es!", holt mich Laurens warnende Stimme aus meinen Gedanken, welche gerade einen genialen Plan schmieden wollten. Ich drehe mich um und runzle die Stirn.

Ich weiß genau was du vor hast! Und ich wiederhole mich: Vergiss. Es. Ich weiß, wie wichtig es für dich ist. Aber möchtest du dein Leben riskieren? Wir überlegen uns etwas, okay? Aber bitte tu nichts Unüberlegtes", sagt Lauren. Sie hat Recht. Nur ist es diese innere Anspannung die mich auffrisst. Ich muss ihn sehen und mit ihm reden.

Pass auf. Ich muss gleich los zu meiner Kanal-Reinigungs-Schicht *hüargh*. Du hast heute frei oder? Dann komme ich später nochmal vorbei und wir erstellen einen Plan okay?". Lauren kommt zu mir und umarmt mich flüchtig. Ich nicke zustimmend und schon ist sie verschwunden.

Ich atme einmal tief durch und weiß, dass es jetzt das beste wäre, mich abzulenken. Ich greife nach meiner vollgestempelten Arbeitskarte und beschließe diese gegen Lebensmittelkarten einzutauschen.

Unten angekommen schlage ich den direkten Weg zur Ausgabe ein. Bloß nicht nach rechts und nach links schauen. Einfach die Karten eintauschen und wieder nach Hause gehen.

Ich biege um die Ecke und spüre einen harten Griff in meinem Nacken. Erschrocken zucke ich zusammen. Im nächsten Moment finde ich mich an der kalten Mauer einer Seitengasse wieder. Als mein Blick wieder klar wird, erkenne ich wer da vor mir steht.

Mason", stammele ich.

M-m-m-mason", imitiert er meine zittrige Stimme, bevor er in Gelächter ausbricht. Ich bleibe stumm und starre ihm nur entgegen.

Mason ist besagter Leiter unseres Wachteams. Derjenige, der mich ohne Grund immer und immer wieder bestraft.

Was willst du?", bringe ich leise hervor und bete, dass ich hier lebend rauskomme.

Sein Blick verhärtet sich und ich erkenne puren Hass und Zorn in seinen dunklen Augen. Mir wird eiskalt und ich verspüre das Verlangen zu rennen. So lange zu rennen, bis meine Lungen das letzte bisschen Sauerstoff verbrauchen. Eins ist klar. Ich muss hier weg. Raus aus der QZ und weg von Mason um zu überleben.

„Der Boss hat mich beauftragt euch Kakerlaken einen neuen Job zu geben. Seit gestern halten wir einen Händler und seine Kleine fest. Ihr sollt auf sie aufpassen. Das schaffst du doch oder?", fragt er spöttisch.

Warte. Meint er etwa Joel?

Das schaffst du doch oder?", bellt er und umfasst meine Schultern um mich mit einem Ruck weiter gegen die Mauer zu schlagen. Dabei schnellt mein Kopf so schnell zurück, dass er mit geballter Wucht gegen das Gestein schlägt

Aua. Doch wieder bleibe ich still und lasse es ein weiteres Mal über mich ergehen.

Ja, Sir", erwidere ich leise und Tränen steigen mir in die Augen.

Mason lockert seinen Griff und löst sich von mir. Dann dreht er sich um und verschwindet. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Dieser Moment war ein Fluch und ein Segen zugleich. Mein Kopf schmerzt höllisch. Vermutlich muss ich gleich eine Platzwunde versorgen. Aber auf der anderen Seite ... auf der anderen Seite ist das die Gelegenheit Joel zu sehen.

Ich schaue in die Ferne und muss trotz der bedrückenden Dunkelheit in mir lächeln.

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Im nächsten Kapitel treffen wir das erste Mal auf Joel ... 🥹🤭

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