~21~

236 8 0
                                    

Wie ein bemitleidenswertes Wrack fühlte ich mich, jemand, der keinen Sinn mehr im Leben sah. Und ausgerechnet jetzt hatte ich auch wirklich Recht. Ich hatte niemanden mehr. Keiner stand mehr an meiner Seite, niemand, der meine Hand hielt oder mich stützte.

Mein einziger Halt war weg, mein wichtigster Halt – einfach gegangen. Was sollte Bonten schon tun? Meine Mutter ersetzen? Mir den Rücken stärken oder mich bemuttern? Und Akira... würde ich sie jemals wiedersehen? Vermutlich nicht. Diese widerlichen, dreisten Gedanken versuchte ich beiseitezuschieben, aber sie fraßen mich auf. Immer tiefer zogen sie mich hinunter in eine bodenlose Dunkelheit.

Gedankenverloren saß ich mit den anderen am Tisch, starrte das Frühstück an, das Takeomi für uns zubereitet hatte. Aber Appetit hatte ich keinen. Allein der Gedanke an Essen, ließ mir den Magen rebellieren. Sanzu schob mir ein Schwarzbrot mit Käse unter die Nase. Ich verzog das Gesicht und schob den Teller von mir weg. Genervt schob er ihn wieder zurück, griff nach meinen Armen und legte sie fest auf meine Oberschenkel.

"Du musst etwas essen", wisperte er gereizt und verstärkte seinen Griff um meine Handgelenke. Ich schüttelte den Kopf, drehte ihn angewidert zur Seite. "Iss das Brot!", fuhr er mich nun wütend an und versuchte, meine Hände zum Teller zu zerren. Ich sollte nach der Brotscheibe greifen, aber alles in mir sträubte sich.

"Ich will aber nicht", quengelte ich, starrte das Essen angeekelt an und zog meine Hände widerwillig zurück. Fest entschlossen stand ich auf, drückte den Stuhl an den Tisch und verließ die Küche. Deprimiert ließ ich mich auf das Sofa fallen, zog die warme Decke über mich und verkroch mich darin, als könnte der weiche Stoff mich vor der Welt beschützen.

---

"Dein Zimmer ist jetzt frei. Du kannst es einrichten, wie du möchtest", erklärte mir Mochi, als er mich in mein neues Zimmer führte. Es war schlicht und funktional eingerichtet – Schwarz, Weiß und etwas Rot dominierten den Raum. Einige Möbel waren noch nicht aufgebaut, aber das war mir nur recht. Es würde mir helfen, mich abzulenken und meine Gedanken zu ordnen.

Mein Zimmer lag direkt gegenüber von Sanzu's und neben Rans. Ich trat ein, ließ meinen Blick über den Raum schweifen und kniete mich schließlich nieder. Aus einem der Kartons holte ich die Bauanleitung und starrte verwirrt auf das Papier, während ich versuchte, daraus schlau zu werden. Mehrere Anläufe brauchte ich, um überhaupt zu verstehen, was wohin gehörte. So vertieft war ich in mein Tun, dass ich gar nicht bemerkte, wie Sanzu in der Tür stand und mich beobachtete. "Braucht die Kleine Hilfe?", fragte er plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken drehte ich mich zu ihm um. Seine Gesellschaft war das Letzte, was ich jetzt wollte. Er würde mir doch nur auf die Nerven gehen. Oder etwa nicht? Andererseits konnte eine dritte Hand nicht schaden. Also nickte ich. Er ließ sich das nicht zweimal sagen, betrat mein Zimmer und ging direkt auf mich zu. Doch anstatt mir beim Aufbau zu helfen, legte er seine Arme um meine Taille, zog mich an sich und drückte meinen Rücken fest an seinen Bauch. Sanft legte er sein Kinn auf meinen Kopf und atmete ruhig aus. Ich wehrte mich nicht. Warum auch? Irgendwie gefiel es mir sogar. Gerade jetzt brauchte ich Wärme, Nähe, jemanden, der mir das Gefühl gab, nicht völlig allein zu sein. Dennoch kam in mir der Gedanke auf, ob es wirklich klug war, ihn so nah an mich heranzulassen. "Ich will wirklich freundlicher zu dir sein, Amaya", flüsterte er mir ins Ohr und legte seinen Kopf sanft auf meine Schulter. "Vom ersten Moment an, als du vor mir standest und mich angestarrt hast, hast du mein Interesse geweckt. Nein, nicht nur das. Du hast das Verlangen in mir entfacht, dich zu besitzen. Ab diesem Moment wusste ich, dass du nur mir gehören würdest." Seine Worte krochen in meinen Kopf, während er seinen Griff noch etwas verstärkte, als wollte er sicherstellen, dass ich ihm nicht entkommen konnte.

"Nur damit du Bescheid weißt, Liebes: Auch wenn du es hier nicht willst, hast du Pech. Denn ich werde dich niemals mehr in Ruhe lassen. Du hast mir den Kopf verdreht, Amaya. Ich bin verrückt nach dir", raunte er in meine Halsgrube und schickte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. "Und noch etwas", fügte er hinzu, während er endlich seinen Griff lockerte und zurücktrat. "Einmal in Bonten, Süße, gibt es keinen Weg zurück. Du wirst nie wieder hier rauskommen." Mit diesen Worten ging er an mir vorbei, nahm die Bauanleitung in die Hand und begann sie gründlich zu studieren. Ich sagte nichts, beobachtete ihn nur. Er trug eine schwarze Jogginghose und ein enges weißes T-Shirt, das sich über seine durchtrainierten Bauchmuskeln spannte. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Sanzu bemerkte mein Starren, lächelte schief und begann endlich, mir beim Aufbau der Möbel zu helfen. Nutzlos stand ich da, schaute auf ihn herab und tat nichts. Wie oft sollte ich es noch sagen? Dieser Mann war ein besonderes Geschöpf. Einzigartig, aber gleichzeitig düster und krank. Meine Neugier brannte in mir. Was hatte ihn zu dem gemacht, was er jetzt war? Warum war er so geworden? Takeomi, sein Bruder, war ganz anders – bodenständiger, bei weitem nicht so... verstört wie Sanzu.

Um nicht völlig nutzlos dazustehen, gesellte ich mich schließlich zu ihm und begann, mit aufzubauen. "Du bist 27, richtig?", fragte ich nach, weil ich mich nicht mehr genau erinnerte. Er nickte, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, während er eine Schraube gerade zog. Ich wollte etwas sagen, doch er kam mir zuvor. "Du bist 22", murmelte er und konzentrierte sich weiter auf die Schraube. "Du hast neben einem Heim gewohnt, wo du auch Akira, deine beste Freundin, kennengelernt hast. Mit sechs Jahren bist du auf die Kawonika-Grundschule gegangen, zusammen mit Manjiro. Zwischendurch hattest du viele Probleme mit deiner Familie, besonders mit deinem Bruder, der drogenabhängig wurde und oft in Prügeleien geriet. Nach deinem Schulabschluss hast du in einem kleinen Restaurant angefangen und dort eine Ausbildung gemacht. Jeden Monat hast du einen Teil deines Lohns deiner Mutter gegeben, damit sie über die Runden kommt. Und jetzt... bist du hier."

Wie aus dem Nichts erzählte er mir meine Lebensgeschichte, und ich saß nur da, völlig perplex. Ich hatte ihm nie davon erzählt. Wie konnte er all das wissen? Und doch wusste ich nichts über ihn. Nichts, außer seinem Namen, seinem Alter, seinem Bruder und seinem Beruf. "Erzähl mir etwas über dich", flüsterte ich erstaunt, noch immer überwältigt von dem, was gerade passiert war. Er lachte kurz, verdrehte die Augen und sah mich an. "Ein anderes Mal", sagte er monoton und widmete sich wieder der Bauanleitung. Ich ließ nicht locker. Es war unfair, dass er alles über mich wusste, und ich nichts über ihn. "Bitte?", jammerte ich schon fast, in der Hoffnung, ihn umzustimmen. "Nein, Amaya", seufzte er genervt.

Obsessed/ Sanzu HaruchiyoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt