Boxing Day

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2. Weihnachtstag


"Wieso feiert ihr Weihnachten eigentlich am Tag nach Weihnachten?" Blues Frage inmitten der großen Familie, die sich in ihrem Heimathaus versammelt haben, um das Christfest gemeinsam zu feiern, wird begeistert aufgenommen. Daniels Familie besteht zunächst mal aus seinen Geschwistern, die mit ihm in diesem Hause aufgewachsen sind und weitgehend das gleiche Alter haben wie er. Einige kamen damals nicht nur allein oder mit einer Mutter oder (in einem Fall) mit einem Vater, sondern auch mit leiblichen Geschwistern, die zwei ältere und drei jüngere zur Kinderschar hinzufügen. Und dann gab es da noch den viel älteren Bruder eines Kindes, für das er das Sorgerecht besaß und der zu den Kümmerern gehörte und von allen anderen Kinder eher als ein Vater denn als großer Bruder angesehen wurde.
In den vergangenen Jahren hat sich die Familie laufend vergrößert. Die alleinerziehenden Eltern haben neue Lebenspartner gefunden und mit ihnen weitere Kinder bekommen, die dann zwar nicht mehr im Anwesen gelebt haben, dort aber stets willkommen waren. Auch einige der Kinder sind mittlerweile Eltern und nicht ohne ihre Kinder hier. Sie alle lassen das Haus aufleben und eine Weihnachtsstimmung aufkommen, wie es kein Schmuck der Welt kann.

"Manche Länder haben einen zweiten Feiertag am sechsundzwanzigsten, wusstest du das nicht?" Fragt ein Achtjähriger und als Blue mit dem Kopf schüttelt, nickt er lehrerhaft.
"Vor allem in Europa, aber auch woanders", fährt er fort und seine kleine Schwester ruft dazwischen: "In okay!"
Tyler hat Schwierigkeiten, sein Schmunzeln zu verbergen, als er in den Gesichtern der anwesenden Erwachsenen nach einer Erklärung für die letzte Aussage sucht. Daniel liefert sie ihm, als er sich neben ihn setzt und ihm ein Glas Eggnog in die Hand drückt.
"Ja, und in UK", er spricht es so langgezogen und zusammenhängend aus, dass es sich wie uhkey anhört, "dem Vereinigten Königreich und anderen Ländern des Commonwealth hat man sogar einen eigenen Namen dafür. Und welcher ist das?" Die Frage geht an die aufgerissenen Kinderaugen, die ihn umrunden und wird mit Begeisterung aufgenommen.
"Boxing Day!" klingt es laut aus allen Kindermündern und die Erwachsenen kichern in ihre Gläser, bevor sie lobend nicken.
Milly, die dabei ist, kleine Schachteln aus einem blauen Müllsack zu nehmen und unter dem Tannenbaum zu drapieren, fährt mit einer Erklärung über den Namen und dessen Bedeutung fort.
"Die Oberschicht des 16. Jahrhunderts nutzte den Tag nach Weihnachten, um ihrem Personal die Reste des Weihnachtsessens zu überlassen und jedem eine Christmas Box zu überreichen, eine kleine Schachtel mit einem Geschenk als Dank für ihre Dienste. Es war also der traditionelle Weihnachtsfeiertag fürs Arbeitervolk."

"Moment Mal, das erinnert mich an eine Geschichte über dich aus meiner Kindheit. War da nicht mal ein Artikel über dich, den Boxing Day und dein armes Personal, dass die Reste wegwerfen musste, statt es verzehren zu dürfen?" Tyler erinnert sich auch an das Foto einer Frau, die schwer unter einem blauen Müllsack schwitzte, den sie aus dem Haus und Richtung Mülleimer schleppen musste. Als alle um ihn herum zu kichern anfangen, die Kinder auf den blauen Sack deuten und Milly breit grinst, dämmert es Blue, aber glauben kann er es immer noch nicht.
"Das warst du?"
Das Gelächter wird noch lauter und es dauert eine Weile, bis zu dem allgemeinen Nicken auch eine Erklärung abgegeben werden kann.
"Du glaubst nicht, wie wenig Leute sie wirklich erkennen, wenn sie ungeschminkt und in normale Alltagskleidung gehüllt auf der Straße an ihnen vorbeiläuft."
Tyler muss zugeben, dass er sich das nur deshalb vorstellen kann, weil er es mit eigenen Augen erlebt hat, so wie heute. Man mag es glauben oder nicht, aber Milly wirkt, wenn sie komplett aufgetakelt ist, nicht nur bunter und eleganter sondern auch größer und jünger als in ihrem Alltgsgrau.

"Ich musste meine Kinder schützen, um so mehr, nachdem die ersten Drohbriefe kamen. Der beste Schutz vor Entführungen und Erpressungen war der Abstand, den ich zwischen mir und ihnen geschaffen habe. Das heißt aber nicht, dass sie mir so egal waren, wie ich es die Öffentlichkeit glauben ließ. Im Gegenteil, eines der Kinder war mir sogar besonders wichtig und der Grund, warum ich diese Einrichtung überhaupt ins Leben gerufen habe."
Milly hat ihre Arbeiten beendet und steht nun vor dem Christbaum, wo sie von vielen Augen ins Visier genommen wird. Fragende, neugierige und verwunderte Blicke ruhen auf ihr, warten auf die Ankündigung, die ihnen in der diesjährigen Einladung versprochen wurde, weshalb möglichst alle Erwachsenen und Kinder diesmal kommen sollten. Und was soll man sagen, niemand hat sich dieser Bitte verweigert und das Haus ist so voll wie noch nie zuvor. Die kleinen Wohnungen und wenigen Gästezimmer werden diese Nacht bis zum Anschlag gefüllt sein, aber wen stört es, wenn man hier den Zusammenhalt leben kann, der diese selbst gewählte Familie vereint?
"Meine besondere Präsenz in der Öffentlichkeit, durch meine Partys an Christmas Eve und mein derangiertes Auftreten am nächsten Tag auf anderen Weihnachtsfeiern, war nötigt, um die Hyänen der Presse davon zu überzeugen, dass es sich nicht lohnte, sich am Tag nach Weihnachten auf die Lauer nach mir zu legen. Deshalb haben wir den zweiten Feiertag aus anderen Ländern für uns adaptiert. Und warum auch nicht? Immerhin kommt meine Familie aus so einem Land."

MC 3: Happy New Year✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt