Prolog

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Tiefblau und eiskalt.

Tiefblau und eiskalt, wie eine riesige Glaskuppel hing die Nacht am Himmel.

Wie eine dunkle Porzellanschüssel mit aufgemalten, winzigen Lichtern.

Eine große, blasse Scheibe hing darüber, unverdeckt am wolkenlosen Sternenzelt. Feines Silber schien von ihr herabzutropfen, schien zu verschmelzen mit den feinen Konturen der Asche, die in einem Windstoß von Norden tänzelnd nach oben stob.

Die Ebene schien noch immer verlassen, die Ruinen einsamer denn je und die Villa, das einzige Haus, dessen Herz noch schlug, protestierend und trotzig wie vor Hunderten von Jahren schon. Stille breitete sich über den vom Mondlicht erhellten Silhouetten wie ein feines Seidentuch aus, gesponnen aus Silber und den Splittern der toten Steine.

Eine vorsichtiger Nordwind klaubte behutsam die Aschepartikel vom Boden auf, suchte sich ein paar wenige heraus und ließ die anderen wieder fallen, griff entschlossen nach dem feinen Grau und schleuderte es verspielt in die Luft, bevor er es in einem funkelnden Silberregen wieder nach unten sinken ließ. Dann tänzelte er weiter, hinaus auf die Ebene, bis er die hölzernen Splitter nicht mehr schluchzen, die zerbrochenen Fenster nicht mehr schreien und die verfallenen Steine nicht mehr seufzen hörte. Und alles war wieder ruhig.

Eine kleine Eule erhob sich lautlos aus dem weißlichen Sternenstaub, ungelenk, aber ohne ein Geräusch zu machen. Ihre Flügel waren bedeckt von Asche, doch ihre Augen glommen wie Bernstein in der Dunkelheit auf, wachsam und hell. In Stille schüttelte sie die winzigen grauen Teilchen von ihren Federn, die in einer kleinen flimmernden Wolke nach unten rieselten und richtete den Blick auf die Villa.
Die Sprünge in den Fensterscheiben glänzten scharf im Silberlicht auf und das dunkle Holz im Rahmen der geöffneten Tür schien mit der Dunkelheit dahinter zu verschmelzen. Die Wände hätten eine dunkle Färbung angenommen, Ruß klebte noch immer über der einst weißen Tapete, an der einst feine Herren und Damen in prunkvollen Seidenkleidern gelehnt hatten. Doch nun hatte sich schwarzer Nebel in die Reinheit der Mauern gekrallt, hatte die Schönheit abgerissen und nichts als nackte, hässliche Fassade zurückgelassen.

Die Schneeeule spreizte die Flügel. Einige Federn waren voller schwarzer Punkte, als hätte man sie mit Pech bespritzt, doch das königliche Weiß verschlang sie fast gänzlich. Der bernsteinfarbene Blick fixierte noch immer die kahlen Steine und grauen Ziegel der Villa, und mit einem raschen Stoß stieß sich das kleine Geschöpf vom Boden ab. Wieder trug der Wind die Asche mit sich, und er zeigte der Eule den Weg; ein silbernes Band, tanzend schwebte es in der kalten Luft, auf die schimmernde Silhouette des Hauses zu.

Ein paar Ziegel waren vom Dach gefallen und hatten die morschen Holzbalken darunter entblößt, ein großes Loch, durch das der weiße, abgeblätterte Lack wie Elfenbein schien. Lautlos segelte die Eule hindurch, ihre Flügelspitzen streiften sanft die kantigen Splitter, als wollten sie sie trösten, und ihr Blick war achtsam auf das schimmernde Gerippe des Hauses gerichtet.
Die Asche suchte sich ihren Weg durch den Schutt, der das gesamte Haus füllte. Sie tanzte hinunter über die prunkvolle Treppe, auf deren kunstvoll geschnitzten Geländer einst sorgsam gepflegte Hände mit goldenen Ringen gelegen hatten, und hinein in einen Raum im dritten Stock. Die Eule folgte der schimmernden Wolke vorsichtig, ihre hellen Augen achteten aufmerksam auf jeden Splitter, auf jeden Stein, auf alle Winkel und Ecken, in denen die Dunkelheit Schutz vor dem Mondlicht suchte. Ihr Schatten flog der Eule nach, kontrastierendes Schwarz unter dem weißen, reinen Körper. Verzerrt schwebte er über dem unregelmäßigen Boden, fiel durch wenige gebrochene Bretter eine Ebene nach unten und war blitzschnell wieder oben auf dem Parkett.

Die Eule durchquerte das Zimmer, betrachtete die Portraits an den Wänden. Alte, weise Herren mit grauen Bärten, Frauen mit Perlenketten, Kinder an den Händen ihrer älteren Geschwister, Babys in warmen Decken. Stillleben, daneben eine Kampfszene, als wollte sie den roten Äpfeln und mit dem vielen Blut Konkurrenz machen, und auf der linken Seite die Standuhr.

Ihre Zeiger standen kurz vor Mitternacht, gewundene, goldene Spiralzeiger, einer kurz und einer lang. Der Blick der Eule streifte sie einen Moment lang, glitt für eine Sekunde über die schwingenden Pendel, während leises Ticken den Raum ausfüllte, hell und klingelnd, wie winzige Glöckchen, die von Hämmerchen aus Sternenstaub angestoßen wurden. Dann wandten sich die Tropfen aus Bernstein von der dunklen Uhr ab, so hastig, als suchten sie etwas Bestimmtes - und sie fanden es.

Tick - tack, machten die kleinen Zahnrädchen hinter dem Ziffernblatt. Tick - tack.

Am Boden lagen zwei dustere Schatten, eher Silhouetten. Zwei Tote, in schwarze Mäntel eingewickelt. Zwei Leichen, über deren Körper nun feiner, silbriger Staub und tropfendes Mondlicht rieselten. Asche lag in den tiefen Falten im schäbigen Stoff, nistete sich darin ein, als wollte sie zu einer feurigen Blume wiedererblühen, als wollte sie das Leben wiederherstellen, das den beiden namenlosen Körpern genommen worden war.

Tick - tack.

Die Eule schlug mit dem Flügel und senkte den Kopf, als nickte sie den beiden Toten ehrfürchtig zu. Dann glitt sie hinaus aus dem dunklen Zimmer, durch gesplittertes Glas hinaus in die Nacht, über den Balkon. Die Asche flog ihr voraus, und kaum, dass sie die kalte Nachtluft berührt hatte, zerplatzte sie in tausend kleine silberne Splitter. Die Eule ließ sich auf der Brüstung des Balkons sinken, die mit Staub und Asche bedeckt war, mit heller und dunkler Asche. Doch das Bernstein wusste, wonach es suchte.

Tick - tack.

Mit einem Schaben ihrer Krallen rieselte die Asche nach den Balkon herunter. Darunter kam Eis zum Vorschein, kalte, wunderschöne Blüten aus Frost schlangen sich um das gewundene, glatte Holz.

Ein Blick darauf genügte der Eule, schon mit dem nächsten Windstoß stieß sie sich wieder kraftvoll ab und schwebte mit vorsichtigen, aber starken Flügelschlägen dem Vollmond entgegen. Die Asche folgte ihr wie ein silberner Schleier, verlor sich aber irgendwo in einer kalten Böe und trieb hilflos durch die Dunkelheit davon.

Tick - tack.

Unter dem Balkon, unter der mit Eis bedeckten Brüstung, lagen vier Gestalten.

Tick - tack.

Zwei Männer, eine Frau, ein Kind. Ein Junge mit rabenschwarzem Haar.

Tick - tack.

Keine der Gestalten atmete.

Tick - tack.

Zwei davon lebten, zwei davon waren tot.

Tick - tack.

Der Wind strich über ihre Gesichter, brachte den Schnee und die Asche mit sich, wies dem Mondlicht den Weg zu ihren Silhouetten.

Ein tiefer Ton, es war Mitternacht. Noch einer. Und noch einer.

Plötzlich schnappte der Junge nach Luft. Ein hastiger Atemstoß, ein fast lautloses Geräusch. Er sog den Schnee ein, die Kälte, den Wind, das Mondlicht.

Die Standuhr verstummte.

Der Junge schlug die Augen auf.

Und in seinem Blick lag das raue, unbezwingbare Meer.

Winterherzen (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt