wie es begann
Ich betrete das Come Inn und schaue mich nachdenklich um. Die Taverne ist voll bis auf einen Platz an der Theke, der ganz offensichtlich für jemanden freigehalten wird. Alle Gespräche sind verstummt und alle Augen ruhen auf mir. Ich ignoriere die Menge und wende mich der Barfrau hinter der Theke zu, nehme dabei wie selbstverständlich den freien Platz ein und bestelle laut: "Wie immer!"
Das leise Murmeln, die Blicke, die jeder meiner Bewegungen folgen und die Ohren, die regelrecht auf mich ausgerichtet sind, darum bemüht, nichts zu verpassen; das alles sorgt für eine seichte Spannung in der Luft und ist irgendwie berauschend. Dieses Gasthaus ist ein Theater, mein Platz an der Theke ist die Bühne, die Gäste sind das Publikum und ich bin die Hauptattraktion.Nicht alle Anwesenden sind Zuschauer meiner Performance. Candy, die Barfrau, ist eher eine Statistin im stattfindenden Schauspiel um das Geheimnis des verschwundenen Zwillings. Einige Einheimische sind da, um ihr wohlverdientes Feierabendbier zu genießen und der eine oder andere Durchreisende ist hier vermutlich reingeraten, ohne zu wissen, was gespielt wird.
Wir befinden uns im Come Inn & Stay, einem Lokal mit angrenzender Pension und einem speziellen Angebot für Touristen. Es beinhaltet neben einer Übernachtung mit Frühstück im Stay auch einen Snack mit Getränk am Abend im Come Inn mit der Chance, hier auf mich zu treffen, den guten Zwilling. Aber bin ich das wirklich? Genau diese Frage liegt in der Luft und sorgt für besagte Spannung. Die Anzahl derjenigen, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, würde vermutlich weiterhin steigen, wäre es nicht auf die vorhandene Bettenzahl begrenzt. An den Wochenenden ist die Herberge daher über Monate im Voraus ausgebucht. Der idyllische Ort mit vielen kleinen Geschäften und die unterschiedlichen Wanderwege darum herum bieten genug, um einen freien Tag genießen zu können. Doch am Abend kehren sie alle hier ein um ihre Schaulust zu befriedigen. Egal ob sie das Geheimnis lüften und den Betrug entlarven wollen oder insgeheim darauf hoffen, einem Mörder zu begegnen. Dabei gibt es nur eine fünfzehnprozentige Chance mich überhaupt anzutreffen, denn ich bin durchschnittlich höchstens einen Tag pro Woche hier.
Freitags ist die Taverne immer besonders voll, denn es ist der Tag, an dem mein Auftauchen am Wahrscheinlichsten ist. Da wir an vielen Wochenenden sowohl geführte Wanderungen als auch Überlebenstraining bis in die tiefsten Tiefen des Waldes anbieten, treffe ich mich freitags gerne mit unseren Kunden, um mit ihnen den Ablauf der nächsten beiden Tage zu besprechen und sicherzustellen, dass alles bereit ist. Heute bin ich aus dem zweiten Grund hier, der mich zum Beginn des Wochenendes in die Taverne lockt. Die Touristen bringen nicht nur Geld in die Kassen unseres Ortes, sondern auch ein reichhaltiges Buffet an interessierten Männern mit sich und ich bin auf der Pirsch. Das bedeutet nicht, dass ich die Hoffnungen der Gäste ignoriere.
Candy macht eine große Show daraus, ihr Küchentuch von der Schulter zu nehmen, das dunkle Holz der Theke vor mir glänzend zu polieren und das Tuch schwungvoll zurück an seinen Platz zu schleudern. Anschließend stellt sie mir ein Glas vor die Nase, in das sie Bourbon einschenkt. Ich schnuppere daran, verziehe das Gesicht und schiebe es auf der Theke zurück in ihre Richtung. Mein Publikum saugt kollektiv überrascht die Luft ein, hält den Atem an, um zu hören, was ich stattdessen bestelle und lacht dann nervös auf, als ich mich nur über die fehlenden Eiswürfel beschwere. Betont lässig greife ich dann nach meinem Glas, drehe mich anschließend auf dem Barhocker um, lehne mich mit dem Rücken gegen die Theke aus dunklem Holz und stütze meine Ellenbogen hinter mir darauf ab. Mein Glas locker in der linken Hand, lasse ich die hinzugefügten Eiswürfel darin klimpern, während meine Blicke suchend über jeden Anwesenden wandern.
Ich sehe neue Gesichter und alte Freunde, Touristen und Dorfbewohner, ehemalige und potentielle Hookups. Den letzteren spende ich besondere Aufmerksamkeit. Ich bin offiziell der nette, soziale, freundliche, offene Zwilling und heute hier, um einen von ihnen aufzureißen und mit in meine Hütte zu nehmen. Die Männer, die meine interessierten Blicke erwidern und mir gefallen, kommen in die nähere Auswahl. Leider ist die erwartete Person von besonderem Interesse heute doch nicht da, wie schade. Aber man kann wohl nicht alles haben. Langsam hebe ich die Hand mit dem Glas an, wechsle es jedoch erst in die andere Hand, bevor ich daraus trinke. Zurück in der vorherigen Position ist es nun meine rechte Hand, die das Glas zum Schwingen bringt. Belustigt betrachte ich die enttäuschten Gesichter einiger Gäste und suche spöttisch ihren Augenkontakt. Dachtet ihr wirklich, dass es so einfach ist, mich von meinem Zwillingsbruder zu unterscheiden? Anhand meines Getränks oder weil einer von uns angeblich Rechts- und der andere Linkshänder ist? Es sind sowieso nur Gerüchte, aber sie sind Teil des Spaßes, weshalb ich sie nicht zerstöre und nur mit ihnen spiele.
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Twin Tale (eine Zwillings-Saga)✅
RomanceArian ist ein Zwilling, er lebt und arbeitet zusammen mit seinem Bruder Zachary als Waldhüter und sieht diesem so ähnlich wie es eineiigen Zwillingen nur möglich ist. Von Kindesbeinen an sind sie darin geübt, ihre Rollen nach eigenem Gutdünken zu ta...