Prolog

14 5 0
                                    

"Verdecke dein Gesicht, Anny", sagte ihre Mutter und zog ihr die Haube tiefer ins Gesicht. Anny wusste nicht, warum. Sie war viel zu jung, um zu verstehen, dass Menschen wie sie hier nicht willkommen waren.

Sie kratzte sich das Gesicht und kleine Stückchen aus Papier fielen zu Boden.

"Was machst du denn, Anny?" Ihre Mutter blieb stehen und kniete sich vor sie. Sie hob die kleinen Papierstückchen auf und schaute sich um: nervös und aufgeregt, ob jemand sie beobachtete. Ihre Stimme war sehr harsch und Anny spürte, wie Tränen ihre Wangen hinunterzulaufen begannen.

Ihre Mutter bemerkte wohl, dass sie weinte, und fing eine der Tränen in ihrer Hand. "Hey, Kleines. Du weißt, dass wir dich verstecken müssen. Sonst werden sie dich töten. Und", die Stimme ihrer Mutter brach, "das kann ich nicht zulassen. Du bist alles, was ich habe." Sei seufzte. "Hör zu, Anny. Du musst deinen Kopf unten halten. Schau nicht hoch."

Je näher sie dem großen Tor kamen, desto fester umschloss ihre Mutter ihre kleine Hand mit ihrer. Irgendwann tat es sehr weh, aber Anny wagte nicht, loszulassen. Sie biss sich auf die Lippe und schmeckte den eisernen Geschmack ihres eigenen Blutes. Schmerz gegen Schmerz.

Das Tor war so groß wie ein Riese in den Augen eines Kindes. Und das war es auch in der Tat. Es war mit goldenen Ornamenten dekoriert und mit so vielen Flaggen und Geschichten. Bücher flogen um die Türme, die auf jeder Seite des Tores standen. Fliegende Bücher!
Ihr Mund stand vor Staunen weit offen, überwältigt davon, fliegendes Papier zu sehen.

"Mama?" Sie zog am Rockzipfel ihrer Mutter. "Kann ich auch fliegen?" Ihre Augen leuchteten und ihre piepsige Stimme erreichte höhere Sphären.

Aber ihre Mutter antwortete ihr nicht. Die Augen der Frau, die in graue Kleidung gehüllt war, schauten zu dem schwarzen Drachen hoch, der auf einer Plattform über dem Tor saß, den mächtigen Kopf hoch erhoben. Er schaute hinunter auf jene, die dabei waren, die Stadt der Bücher zu betreten.
Ihr Blick hinauf dauerte nicht länger als einen winzigen Augenblick, denn es gab eine Regel: Senke immer deinen Kopf, wenn du durch das Tor des Drachens gehst. 
Wenn man das nicht tat, würde er einen nur allzu genau beäugen und schnell entscheiden, ob man würdig war, Beth' Elar zu betreten oder nicht.

Wenn er dachte, dass man es nicht war ... Sagen wir: man sollte um sein Leben rennen.

Anny merkte, wie ihre Mutter die Luft anhielt und blies ihre Wangen voll Luft, um es ihr gleich zu tun. Die Luft gluckerte so lustig in ihrem Mund. Aber sie traute sich nicht, zu lachen. Also schubste sie die Luftblasen in ihrem Mund mit der Zunge hin und her. 
Aber unglücklicherweise gelangte eine der Luftblasen auf die falsche Seite ihres Mundes. Sie versuchte, sie mit ihrer Zunge einzufangen, aber die Luftblase entkam durch die dünne Schicht aus Papier, die ihre linke Gesichtshälfte überzog, und nicht einmal die Buchstaben darauf konnten sie aufhalten.
Ein paar Buchstaben, es waren ein R und ein M, blieben an der Luftblase hängen und flogen damit davon. Sie sah es aus den Augenwinkeln. "Oh oh", machte sie.

Aber der Drache hatte es schon bemerkt, dass etwas seltsames vor sich ging, weil die Luftblase mit den Buchstaben daran vor seiner Nase vorbeiflog. Ein tiefes Grohnen kam aus seinem großen Maul und er erhob sich.
Die Leute, die auf dem Weg nach drinnen waren, blieben sofort stehen. So auch ihre Mutter und Anny.

Anny keuchte, als sie in ihre Mutter hineinrannte und fühlte, die das Zittern die Kontrolle über ihren Körper übernahm. "Bitte", flüsterte sie so leise, wie sie konnte, "Bitte sei ein liebes Drachi und iss mich nicht." Sie zog ihre Haube noch tiefer über ihre Stirn. Sie wisperte, aber ihre Stimme zitterte dabei:  "Anny ist ganz normal."

Beth'Elar: Die Stadt der Bücher (Deutsche Fassung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt