Aber jetzt, ein paar Jahre später, wusste sie, dass sie ganz und gar nicht normal war. Sie war ein Mischling. Ein Mischling mit einem zweigeteilten Gesicht, dessen eine Hälfte aus Papier bestand und von dem kleine Papierstückchen abfielen, wenn sie darüber strich. Ihre Lippen bestanden zum einen Teil aus menschlichem Fleisch und zum anderen Teil aus einer papierösen Version davon, an der jemand, der versuchen wollte, sie zu küssen, sich leicht schneiden konnte.
Nicht, dass jemand es versuchen würde. Seit ihre Mutter vor ein paar Jahren an einem unbarmherzigen Fieber gestorben war, hatte niemand mit ihr gesprochen. Nicht einmal Berda Westlfell, der ihrer Mutter am Totenbett versprochen hatte, nach ihr zu sehen. Ja, sie war froh gewesen, dass dieses Versprechen gemacht worden war. Aber leider hatte das Schicksal auch noch ein Wörtchen mitzureden und so schlossen die Menschen ihres kleinen Dorfes sie aus.
Die Menschen in Let'Le'Nar, wie das kleine Dörfchen sich nannte, waren einfache Leute und waren äußerst argwöhnisch gegenüber Dingen, die nicht so waren, wie sie sein sollten. Also mochten sie sie auch nicht, weil sie nun mal anders war.
Manchmal verfluchte sie sich selbst dafür, dass ihr Vater ein verdammtes Buch war.
Sie saß auf dem kleinen Stuhl im Wohnzimmer ihres Elternhauses, das im Laufe der letzten Jahre ziemlich heruntergekommen war, und versuchte, einen Teller mit Harz und anderen hölzischen Materialien zusammenzukleben. Aber ihre Geschicklichkeit darin war ungefähr so ausgeprägt wie ihre sozialen Fähigkeiten: gar nicht.
Dafür hatte sie sehr gute Ohren. Naja, eines wenigstens. Ihr linkes Ohr funktionierte nicht: vielleicht, weil man mit einem Ohr aus Papier nicht so gut hören konnte.
Sie hörte die Glocke des Boten lange, bevor er die Straße herunterkam. Schnell zog sie ihren schwarzen Mantel an und legte die Maske auf ihr Gesicht. Auf die Seite, die aus Papier gemacht war, natürlich. Das war ihr Weg, zu verbergen, was sie war.
Die Maske war aus Holz und einer Art getrockneter weißer Erde gemacht, damit es aussah, als wäre es Haut. Sie band die Maske mit einem schmalen Lederband hinter ihrem Kopf zusammen und verbarg es unter ihren Haaren.
Welche Neuigkeiten der Bote wohl brachte? Sie spürte, wie die Aufregung in ihr aufkeimte. Ihre Finger zitterten, als sie sie wieder herunternahm.
Weil sie immer alleine war, hoffte sie, dass er aufregende Neuigkeiten bringen würde, über die sie nachdenken und die sie in ihren Geschichten aufschreiben konnte. Vielleicht erzählte er etwas aus Beth'Elar? In letzter Zeit war die Inspiration so rar gewesen. Und vielleicht hatte er neues Pergament und Schreibkohlen zu verkaufen?
Sie öffnete die hölzerne Tür, die hinaus auf den Balkon führte. Von dort liefen drei Stufen hinunter bis zum Boden. Mit der zweiten Stufe musste man sehr vorsichtig sein, da sie sonst dazu neigte, unter einem zu zerbrechen. Es war ein verräterisches kleines Ding.
Eine Brise des warmen Sommerwindes, der eigentlich immer durch das kleine Dorf schwebte, fuhr durch ihr Haar und spielte mit Windspiel auf dem Balkon eine wunderschöne leise Melodie.
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Beth'Elar: Die Stadt der Bücher (Deutsche Fassung)
FantastikNur selten kommen Menschen nach Beth'Elar, in die Stadt der Bücher. Die Stadt öffnet ihre Tore nur für sie, wenn der alljährliche Wettkampf der Geschichten stattfindet. Eine der tapferen Teilnehmerinnen ist Anny Derley, deren Aussehen den Schein t...