„Hey", seine Stimme klang ein wenig dünn und rau, so ganz anders als am Vortag. So, als hätte er nicht genügend Schlaf gehabt-warum nur? In Gedanken grinste Yuna, weil das Gefühl ihr nur zu bekannt vorkam.
Noch immer war ihr unklar, warum Daehyun sich so „einfach" gab. Warum er sich an eine verhältnismäßig kleine Agentur wandte, warum er so einen schlichten Treffpunkt ausgewählt hatte. Nicht, dass sie etwas dagegen einzuwenden hatte-ganz im Gegenteil, ihr gefiel diese Art-nur verstand sie das irgendwie nicht so recht.
Wie auch immer.
Für eine Sekunde blitzten Fetzen ihrer Träume durch ihr Bewusstsein. Der Sänger und die Reflektion im Spiegel-Yuna wusste plötzlich, an wen sie sie erinnerten. Warum hatte Daehyun sich so in ihr Bewusstsein eingegraben. Nervös lächelte sie.
Der Künstler war ihr irgendwie unheimlich, weil er so einnehmend war. Das war doch nicht normal, oder?
Daehyun, der keinen blassen Schimmer von Yunas Gedankengängen hatte, sah sie fragend an. „Wollen wir reingehen?"
Wie zur Antwort wandte Yuna sich der Eingangstür zu und schritt voran. Etwas überrascht folgte der junge Mann ihr. Yuna drückte die Tür auf.
Ihr Kopf war noch immer voll mit den Schemen ihrer Träume. Das war bei weitem nichts Ungewöhnliches für die junge Frau, doch es hinderte sie daran, sich vollständig dem Gespräch mit dem Künstler zu widmen.
Sie saßen an einem Tisch, nahe dem Fenster. Das kleine Café war beinahe leer bis auf die beiden, dennoch unterhielten sie sich in gemäßigter Lautstärke. Daehyun hatte sich eine Tasse schwarzen Tees bestellt, Yuna einen schwarzen Kaffee. Ihr übermüdetes Hirn schrie förmlich danach.
Daehyun plapperte fröhlich vor sich hin, Yuna nickte ab zu, um zu signalisieren, dass sie ihm immer noch zuhörte. Sein Redefluss wurde von einem Kellner unterbrochen, der die gewünschten Getränke vor ihnen abstellte und freundlich lächelte. „Danke", bedankte Daehyun sich bei ihm, doch der junge Mann starrte nur Yuna an. Da fiel ihr wieder ein, woher ihr sein Gesicht bekannt vorkam. Er war der Typ aus der U-Bahn, der ihr seine Handynummer angedreht hatte. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran. Der Kellner lächelte sie immer noch an. „Was für ein Zufall", merkte er an. Yuna überlegte, wie sie die unangenehme Situation lösen konnte. Daehyun rettete sie, indem er fragte, wer der Mann sei. „Ach, wir haben uns gestern erst in der U-Bahn kennengelernt und ich habe ihr meine Nummer gegeben."
Trotz des freundlichen Auftretens des Kellners blieb Daehyuns Blick kalt, die warme und fröhliche Atmosphäre von vorhin war gewichen. Er wandte sich an den Kellner: „Entschuldigen Sie, aber wir führen hier ein geschäftliches Gespräch. Wäre es möglich, dass Sie persönliche Anliegen auf später verschieben?" Sein Ton war höflich und respektvoll, ließ aber trotzdem keinen Widerspruch zu. Der Kellner hob nur die Brauen und verschwand wieder.
„Da wir rein geschäftlich hier sind, würde ich dir gerne die Dokumente überreichen, die ich gestern mitgenommen habe, um sie auszufüllen." Yuna sprach in demselben Ton, den Daehyun vorher zu Tage gelegt hatte. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder und nickte. Daraufhin griff Yuna in ihre Handtasche und beförderte eine Mappe heraus, die sie ihm über den Tisch zuschob. Er griff danach und steckte sie in seinen Rucksack. „Willst du nicht noch einen Blick hineinwerfen? Du musst doch überprüfen, ob alles korrekt ist. Das sind immerhin wichtige Verträge."
Er grinste nur und meinte, er würde das auch zu Hause machen können. „Ich vertraue dir sowieso, dir wird schon kein Fehler unterlaufen sein." Yuna wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, deshalb nahm sie einfach einen Schluck Kaffee. Leider hatte sie nicht bedacht, dass er ziemlich heiß war und schon hatte sie sich die Zunge verbrannt. Lautstark fluchend stellte sie die Tasse wieder ab, als ihr plötzlich auffiel, dass Daehyun versuchte, sein Lachen als Husten zu tarnen. Mit hochgezogenen Brauen sah sie ihn an. „Das ist nicht lustig."
„Entschuldige." Er versuchte, ernst zu bleiben, aber seine Augen verrieten ihn. Wütend funkelte Yuna ihn an, bis er sie mit seiner Fröhlichkeit ansteckte und ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.
„Wie auch immer. Wo waren wir stehengeblieben?" Yuna versuchte, zum eigentlichen Gesprächsthema zurückzukehren.
Sofort war Daehyun wieder bei der Sache. „Mein altes Management hat zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekündigt. Meine zweite Welttournee steht an, eigentlich ist auch schon alles geplant, deshalb musst du dir da keine Gedanken drum machen. Woran ich aber noch parallel arbeiten muss, ist mein nächstes Album. Die Deadline ist bereits gesetzt, ich habe noch etwa 10 Wochen Zeit, aber ich hänge leider etwas hinterher mit den Songs. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht einmal ein Konzept ausgewählt. In letzter Zeit war alles etwas komplizierter..." Seine Stimme verlor sich in Überlegungen, während seine Managerin sich auf ihrem Handy Notizen machte.
„Am besten schickst du mir alle relevanten Infos dazu per E-Mail oder so. Die müsste in diesen Dokumenten irgendwo beiliegen", merkte Yuna an.
„Lieber ‚oder so'", meinte Daehyun.
„Was meinst du damit?"
„Ach naja, ich dachte, du könntest mir eventuell deine Handynummer geben? Das wäre viel weniger umständlich", erklärte der Sänger und zwinkerte ihr schelmisch zu.
Yuna war das ein wenig unangenehm, aber schließlich diktierte sie ihm doch die Nummer und speicherte auch seine ein.
Schließlich blickte sie auf das Display und merkte, dass es mittlerweile Nachmittag war. Sie bezahlte für sich und für den protestierenden Daehyun. „Das hätte wirklich nicht sein müssen!"
Yuna rollte nur mit den Augen und stand auf. „Du darfst nächstes Mal, okay?"
Der junge Mann strahlte sie an und erhob sich ebenfalls. Als sie gerade an der Tür waren, rief der Kellner Yuna etwas zu, doch Daehyun schon sie schnell hinaus, sodass sie nichts verstehen konnte, und folgte ihr.
Draußen empfingen sie Kälte und Straßenlärm. Yuna schauderte, aber sie riss sich sofort wieder zusammen. „Ist es in Ordnung für dich, wenn ich dich begleite", fragte Daehyun, als sie gerade eine große Kreuzung überquerten. Yuna war so konzentriert auf den Verkehr , dass sie nichts hörte. Als Daehyun ihr auf die Schulter tippte, schrak sie zusammen. Daehyun wollte seine Frage wiederholen, doch er sah, dass Yuna ihre Schritte verschnellerte und nahm an, dass sie ablehnte. Was er nicht wusste, war, dass Yuna sich extrem unwohl fühlte im Straßenverkehr und sich aus ebendiesem Grund beeilte. Die junge Frau war so auf den Asphalt vor sich fokussiert, dass sie das Auto, das auf sie zuraste, gar nicht bemerkte.
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Mirror Gaze-Wenn das letzte Licht erlischt
Mystery / ThrillerYuna ist ein Outcast, eine Außenseiterin. Unerwünscht, ungeliebt, einsam. In der Schule wird sie gemobbt, ihre Familie hat problematische Hintergründe-und sie ist allein. Ihre Welt liegt in Scherben. Yuna sieht keinen Grund darin, weiterzuleben. Das...