Kapitel 1

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Die Frühlingssonne warf ihre Strahlen hell in den großen Vorlesesaal auf meine aufgeschlagenen Notizen. Geblendet von dem reflektierenden Papier sah ich aus dem Fenster. Ich beobachtete amüsiert die kleinen Spatzen, die munter vor dem Fenster ihre Runden drehten, ab und zu auf dem Brett landeten und direkt voller Freude sich wieder in die Tiefe stürzten. Mit einem Lächeln wendete ich mich wieder meinem Lernstoff zu. Die Geschichte der Belcanto Oper stand in Farbe ganz oben auf meinem Collegeblock und glich der Folie über die mein geschätzter Dozent Professor Weber nun seit gut einer halben Stunde philosophierte. Professionell und mit viel Leidenschaft für dieses Thema versuchte er meinen Kommilitonen gerade die Kompositionstechnik Bellinis zu erklären. Leider war deren Aufmerksamkeit schwer zu erlangen, wie ich bemerkte, als mein Blick über den Saal schweifte und auf dem unter den Tisch gerutschten, fast schlafenden Tim fiel, der gelangweilt mit seinem Stift spielte. Ich machte eine ernste Miene. Mir ging dieses allgemeine Desinteresse der anderen Studenten schon von Anfang an auf die Nerven. Die meisten hatten sich nur aufgrund des Studentennachweises für Musikwissenschaft eingeschrieben und saßen hier nur unnötig ihre Zeit tot. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich Feuer gefangen, gerade wenn es um die Thematik der Oper ging, deren Geschichte wir schon die letzten Wochen intensiv behandelten. Um meinen Drang nach Wissen zu stillen, hatte ich online die meisten Folien schon durchgearbeitet und war deswegen firm, was Bellinis Kompositionstechniken anging.

Um meinen Groll zu vergessen, kritzelte ich weiter an meiner Zeichnung herum. Mit gekonnten Strichen entstand neben der von mir schlafend skizzierten Julia ein trauernder Romeo. Inspiriert durch einer der bekanntesten Szenen aus Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi. Mit meiner schönsten Schrift setzte ich die Worte Deh! Tu bell'anima, che al ciel ascendi, A me, rivolgiti, con te, mi prendi über Romeos Kopf. Oh! Du schöne Seele, dass zum Himmel sie aufsteige, zu mir, zu dir nimmst du mich! Die Arie war mir seit Beginn der Vorlesung nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich hatte sie im Bezug auf Bellinis Kompositionstechniken vor einigen Tagen analysiert und war natürlich auf den Ausschnitt der MET gestoßen. Eine wundervolle Inszenierung, wie ich fand. Kate Wilson als Romeo, einfach bewundernswert. Und jetzt prahlte sie leidend auf meinem Karopapier.

Stolz betrachtete ich eine Viertelstunde später das fertige Kunstwerk. Zeichnen war keine Schwäche von mir, das musste ich zugeben.

"Gibt es irgendeine Frage zu dem Thema?" Professor Weber hob eine Augenbraue, während er in die träge Runde starrte. Er seufzte als sich niemand regte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie gern hätte ich ihm aus der drückenden Stille geholfen, doch überflog ich kurz sein Tafelbild und sah keinen Grund etwas anzumerken. Alles eindeutig und verständlich. "Gut, dann soll es das für heute gewesen sein!"

Es war beeindruckend wie schnell Tim und die restlichen Kommilitonen von ihren Stühlen sprangen und ihre Notizen zusammenräumten.

"Eleonore?", suchte Herr Weber meine Aufmerksamkeit. Mit einem bösen Blick, den ich sofort als Ironie zu interpretieren wusste, machte er drei lockende Bewegungen mit dem Zeigefinger. Ich verstand und nickte lächelnd. Ich mochte den schlanken, mittvierzigjährigen, gemütlichen Mann. Mit seinen geschmackvoll frisierten, kurzen Haaren, die im Ansatz allmählich grau wurden und seinem gepflegten Oberlippenbart erinnerte er mich stets an eine männliche Erscheinung von vor rund hundert Jahren. Passend dazu trug er zu jeder Zeit in der Universität eine außerordentliche schicke, braune Anzughose, dazu Hemd und Veste. Sein Hut hing auf dem Kleiderhaken unweit der Tafel über dem braunen, langen Mantel, den er sich gerade überwarf, als ich, Block und Schreibmappe in meinem Beutel verstaut, meine Ausarbeitung zu der Belliniarie in der Hand, den Tisch erreicht hatte. "Wären Sie so lieb und könnten hier einmal drüber lesen?" Mit Bedacht legte ich ihm die drei gefüllten Zettel auf seine Mappe. "Was ist das?", fragte er neugierig. "Ich habe mich am Dienstag schon mit Bellini befasst.", grinste ich. "Ach, Eleonore!", sagte er liebevoll und packte die drei Seiten behutsam mit seinen restlichen Sachen in seine Ledertasche. "Sie wollten mich sprechen?", fragte ich, etwas ungeduldig, was er mir denn mitteilen wollte. "Ja!", er lächelte stolz. Ich zog die Augenbrauen hoch. "Erinnern Sie sich an meinen Bekannten Rudolf Winkler?", begann er. "Der von der Staatsoper?" Er nickte. "Genau dieser. Ich unterhielt mich vor ein paar Tagen mit ihm über die anstehende Tourproduktion von Mozarts La Clemenza di Tito kommenden Juni." Er nahm Hut vom Kleiderhaken und setzte ihn im Gehen auf. Ich folgte ihm, höchst interessiert in welcher Pointe seine Rede ihr Ende finden würde. "Ich habe davon gehört.", ergänzte ich ungeduldig. "Er sagte, die Leitung suche noch Personal für die Künstlerbetreuung." Mein Herz schlug ein wenig schneller, weil ich bereits ahnte, worauf er hinaus wollte. "Ich dachte, ich könnte Ihnen damit eine Freude bereiten. Sie möchten doch später ins Opernbusiness, wenn ich richtig verstanden habe?" Seine blauen Augen, sahen mich nun lächelnd und erwartungsvoll an. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Kinnlade heruntergeklappt war. Mit großen Augen nickte ich. Ich musste kurz verarbeiten, was er mir soeben angeboten hatte. "Das wow das würde mir sehr viel Freude bereiten!", stotterte ich. "Das dachte ich mir. Ich habe Herrn Winkler bereits mitgeteilt, dass eine meiner Studentinnen sehr interessiert sein wird. Es ist für Sie ja auch eine wunderbare Möglichkeit den Entstehungsprozess einer Produktion mitzuverfolgen." Mit einer intensiven Kopfbewegung bestätigte ich seine Aussage und hielt ihm die schwere Eingangstür zur Universität auf. In der frischen Frühlingsluft des Nachmittags blieb Professor Weber stehen, kramte einen kleinen Zettel aus seiner Brieftasche und überreichte ihn mir. "An diese Mail- Adresse können sie Lebenslauf und ein kleines Schreiben schicken. Keine Sorge, ist nur pro forma, damit sie wissen, wen sie dort ins Boot holen. Sie können dort auch sicherlich alle Fragen stellen." Er lächelte in mein strahlendes Gesicht. "Professor Weber, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vielen lieben Dank." Ich sah ihm die Freude über meine positive Reaktion an. "Machen Sies gut, Eleonore!", sagte er mit einem Zwinkern und hob eine Hand zum Abschied. Mit der anderen strich er kurz über meinen Arm, bevor er sich von mir abwand. "Sie auch! Und vielen Dank nochmal!", rief ich hinter her, den Zettel noch immer fest in der Hand. Ich blickte ihm nach. Diesem eleganten Mann, der in der prahlenden Frühlingssonne langsam immer kleiner wurde, bis er letztendlich hinter der nächsten Hausecke verschwand. Ich mochte ihn wirklich sehr. Hätte ich etwas mehr Interesse an Männern, wäre es sicher schon um mich geschehen. Doch meine Schwäche lag ganz eindeutig bei der weiblichen Gattung unserer Spezies. Vor allem im Opernbereich, einem Business, in dem es schließlich von wunderschönen Frauen mit Talent und Charisma wimmelte, kam es nicht schon selten vor, dass ich still und leise Gefühle für die ein oder andere Mezzosopranistin entwickelte. Sie kannten mich nicht und ich kannte sie nicht. Doch sind wir ehrlich, wenn man eine attraktive, gestandene Frau wie Kate Wilson in einen Herrensuit steckt und sie knapp drei Stunden singend um eine Frau kämpfen lässt, dann war das schon verdammt sexy und ein gefundenes Fressen für ein junges, naives Herz, wie meines.

Im Einklang des GesangesWhere stories live. Discover now