Das Video stoppt. Im Kursraum ist es still. Ich wage kaum zu atmen. Nach zwei Nachmittagen intensiver - gemeinsamer! - Arbeit, haben Julian und ich gestern unsere erarbeiteten Punkte als Face-to-face Gespräch aufgenommen.
Es sind wir, die offen über die Sorgen und Ängste reden. Aber auch auch ganz offen darüber, was wir von der teilweise extremen Rainbowwashings halten, dass wir uns letztlich nur Akzeptanz wünschen. Das wir uns Respekt wünschen und das Menschen einfach offen nachfragen, wenn ihnen etwas unklar ist.
Herr Mayer beginnt zu klatschen. Unsere Kurskameraden steigen ein. "Ihr zwei! Das war unvorstellbar gut! Kai! Vielen Dank, dass du uns solch einen Einblick in deine seltene Sexualität gewährt hast! Zu erzählen wie fremd du dich in beiden Welten oft fühlst, kann nicht einfach gewesen sein. Julian, danke für die offenen Worte bezüglich Genderidentität. So erreichen wir wahre Sensibilisierung! Warum habt ihr das Medium 'Video' gewählt?"
Ich sehe zu Julian, der mir zunickt.
"Auf Facebook, TikTok und YouTube ist das Video eines der beliebtesten Ausdrucksmittel. Und auch wenn Videos gestellt sein können, bieten sie dennoch die Chance auf echten Einblick." Herr Mayer nickt meine Erklärung ab und startet dann die letzte - sehr lebendige! - Diskussion für dieses Jahr.
Letztendlich schließt er dann den Unterricht etwas früher ab. Von überall her erklingt der Wunsch "Frohe Weihnachten! Komm' auch gut ins neue Jahr!", als alle zügig in die ersehnten Ferien eilen.
Julian lässt sich Zeit beim Einpacken und so gehe auch ich langsam vor. "Er mag dich!" , flüstert mir da seine BFF Katja ins Ohr.
Dann umarmt sie ihn kurz und flüstert, so dass ich es auch höre, "Das Schicksal schenkt dir den perfekten Freund! Was kann es besseres zu Weihnachten geben? Geh' ran Tiger!"
Zwinkernd, mit einem fröhlichen "Frohe Weihnachten ihr Hübschen!", lässt sie uns allein.
"Beachte sie nicht!" , grummelt er nur und schultert seine Tasche. "Wieso?" , frage ich und trete an ihn heran.
"Wieso, was?"
"Wieso soll ich ihre Worte nicht beachten? Ich denke nämlich sie weiß, was sie sagt."
"Wow. Selbstbewusstsein hast du ja schon einmal!", schnaubt er und will an mir vorbei. Doch ich halte ihn am Handgelenk fest. "Wieso bist du jetzt so? Wir hätten uns fast geküsst!"
Gestern haben wir als kleine Feier, zusammen Pizza gegessen und als ich ihn nach Hause gebracht habe, war da so ein Moment vor seiner Haustüre. Es kribbelt mich noch beim bloßen Gedanken daran.
"Ich...ach was! Das war...war..." , sein Gestammel verstummt, als ich mich näher lehne. "Keine blöde Ausrede jetzt!"
"Es...", er holt tief Luft, "...wäre mein erster Kuss gewesen. Den hab ich mir immer ultra romantisch vorgestellt. Bei Kerzenschein, einem Date...und vor allem nicht als Resultat der Euphorie über ein beendetes Schulprojekt!"
"Wenn du denkst, es vergrault mich wenn du bockig tust, hast du dich geschnitten!"
Ich schließe die Tür, schalte die Lichterketten, die während der Adventszeit im Raum gehangen haben, an und zücke mein Handy. Leise spielt nun Musik. "Du willst Romantik? Bekommst du!"
Er lacht schnaubend auf, als ich ihn an der Hüfte packe und an mich ziehe. Ich lasse mich nicht irritieren und lege seine Arme um meinen Nacken, bevor ich meine fest um seinen Rücken schließe. Leicht lehne ich meine Sturn gegen seine. "Und jetzt erzähl mir, warum du gestern wirklich ausgewischen bist!"
"Ich..." , er seufzt auf diese Art, die ich mittlerweile kenne. Dieses leise, verzweifelte, fast schmerzhafte Seufzen. "...ich hab dir erzählt, dass ich schon vor dem Einsetzen der Periode mit 13, die Hormontherapie begonnen habe und ich die Brust-, Eierstock- und Gebärmutterentfernung schon hatte." "Ja. Das ist warum du die ersten Wochen dieses Schuljahres vom Sport befreit warst. Wegen der Heilung."
"Ich hab viele Schritte getan, um einen männlichen Körper zu haben. Jedoch...", er schlägt die Augen leicht nieder, schluckt, "...der letzte Schriit macht mir Angst. Erst plante ich nach dem Abitur ein Jahr Auszeit zu nehmen und die Geschlechtsanpassung zu erhalten. Aber ich weiß einfach nicht..." , er schaut wieder auf, "...die Operation ist nicht gerade risikolos und die Heilung dauert lange. Eventuell verliere ich jegliches sexuelles Gefühl für längere Zeit. Mein Hirn könnte lange brauchen, um klar zu kommen. Ich weiß nicht, ob es das Risiko wert ist. Ob ich es wirklich brauche. Vor allem bevor ich überhaupt all das gefühlt habe. Was wenn ich danach nie absolute Extase kennen lernen kann?"
"Deshalb weichst du aus?" , sanft lege ich einen Finger unter sein Kinn. "Weil du Angst hast, das stört mich? Das wäre vielleicht von Belang, wäre ich einfach nur schwul. Bin ich aber nicht. Ich denke, ich würde dich auch mögen, wenn du weiblich wärst. Ich mag dich jetzt, genau so wie du aktuell bist. Egal wie du dich entscheidest, ich stehe hinter dir. Für mich ist es kein Problem, wenn du wartest. Oder es nie machst. Für mich bist du ein Mann, egal ob mit oder ohne Penis. Das ist nur ein äußerliches Merkmal."
Eine glitzernde Träne löst sich aus seinen Augen, dann noch eine und noch eine. "Es darf NIE darum gehen, wie andere dich sehen. Es muss um dich gehen. Nur darum was du brauchst! Wenn du die OP nicht willst, muss das jeder der dich ernsthaft mag akzeptieren. Es mag schwieriger werden mit manch einem Mann. Aber dann ist er auch einfach nicht der Richtige. Frag dich selbst, was macht uns wahrhaftig aus? Unsere äußeren Merkmale? Wenn das so wäre, hättest du dich als Mädchen fühlen müssen, denn äußerlich warst du eines."
Sanft wische ich die Tränen fort. "Du magst mich wirklich?" "Sehr. Schon vorher, aber nach den letzten zwei Nachmittagen..." , ich lache überrascht auf, weil er mich stürmisch umarmt. Halte ihn ganz fest und bewege uns leicht zur Musik. Sanft und warm schmiegt sich sein Gesicht an meinen Hals.
Es ist ein stiller, ruhiger Moment. Romantisch auf eine ganz klischeelose, echte Weise. Nur wir zwei, im Hier und Jetzt.
"Verbringst du die Ferien mit mir? Also bis auf die Feiertage mit der Familie? Wir machen bei Katja zu Silvester immer Raclette, willst du mein Date sein?" , flüstert er aufgeregt in mein Ohr.
"Hmm. Ja zu allem. Und vielleicht können wir uns zumindest kurz zu einem Weihnachtsspaziergang treffen am Wochenende? 3 Tage einander nicht sehen, ist doof!"
Die Freude in seinen Augen über meine Worte, lässt mich lächeln. Mehr Zustimmung braucht es garnicht. Ich lehne mich näher zu seinem Gesicht. "Nicht wieder Angst haben!", wispere ich an seinen Lippen, lege dann vorsichtig meine darauf. Ganz bedächtig und zart bewegen sich unsere Münder, als könne der andere schmelzen.
Und irgendwie tue ich das auch.
"Wow!", raunt er nur, als ich mich langsam löse. "Aber sowas von!", raune ich zurück.
"Jahrelang ließ mich immer nur der Gedanke 'nach der Schule werde ich ein echter Mann sein!', hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Fast schon traurig, nicht wahr? Denn du hast Recht. Äußerlichkeiten allein machen mich nicht aus."
"Und was lässt dich jetzt auf eine schöne Zukunft hoffen?"
"Ein Herz das meines erkannt hat und mich so akzeptiert, wie ich bin."
"Das ist das Romantischste das mir bisher jemand gesagt hat!" , flüstere ich ihm grinsend ins Ohr. "Und dabei lerne ich noch!", kichert er und zieht mich dann ganz eng an sich.
Bevor unsere Lippen erneut einander finden können, drängt uns jedoch das endgültige Klingeln der Schulglocke, hastig unsere Taschen und Jacken zu greifen und loszusprinten.
Kichernd balancieren wir die Taschen, während wir Schals und Jacken anziehen, schlittern gerade noch durch die Eingangstür, bevor der grimmig dreinblickende Hausmeister, diese kopfschüttelnd abschließt.
Atemlos lehnen wir einander, grinsen uns glücklich an. Fest packen seine Hände mein Gesicht. "Du bist wirklich das beste Geschenk!" , flüstert er und küsst mich dann ganz ohne Schüchternheit.
Leidenschaft füllt diesen zweiten Kuss, erzeugt sanftes Feuer in mir. Unsere Lippen sind nun drängender, forschender, gieriger. Unsere Herzen schlagen ungestüm, während die Schulglocken wie eine Art Gruß noch einmal läuten.
So geht das alte Schuljahr dahin und ich blicke hoffnungsvoll in das neue, mit Julian an meiner Seite.
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New feelings
Short StoryJulian und Kai müssen zusammen ein Schulprojekt erarbeiten. Nicht nur hängen ihre Köpfe schon in den bevorstehenden Weihnachtsferien, sondern auch vergangene Missstimmigkeiten zwischen ihnen, erschweren die Zusammenarbeit. Dabei ist Kai ganz faszin...