1 - Donner

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Es gewitterte seit Tagen.
Barisse Silencia stand am Rande des Heiligtums, im Schutz des Halbdaches und beobachtete ihre Tochter, die auf der anderen Seite des Torbogens neben der Laureline Statue mitten im Regen stand. Blitze jagten einander über die Kuppel, Regen prasselte auf die Minarette und Hochhäuser der Stadt nieder, rann in silbrigen Schlieren die Caz Kristalle des hohen Turms und Mays nackte Arme herunter.

Die Hohe stand im Heiligtum des Ordens, auf der schwebenden Plattform inmitten des Sakralbaus und sah hinunter auf die Stadt, während der Donner den alten Stein erbeben ließ. Der Wind hatte ihr die weiße Kapuze ihres Umhangs schon lange von den Haaren gerissen, hatte die ungekämmten weißen Haare gelöst, sodass sie ihr um den Kopf peitschten, wie Gischt.
Donner.
Blitze.

Beinahe, dachte May, Beinahe glaubhaft. Wenn man nicht so genau hinsah, nicht so lange den Kopf in den Nacken legte, bis es schmerzte und die gesamte Netzhaut prickelte von den Lichtblitzen, dann funktionierte es wohl.
Es hatte keinen einzigen Blitzeinschlag in der Stadt gegeben und auch keinen im farblosen Bezirk. Der Regen war echt, der Donner falsch und die Blitze – sie kamen nicht von den Wettermachern.

Der Caz Kristall sang um die beiden Frauen her, summte im sanften Licht, als würde die Elektrizität direkt durch sie hindurch laufen. Doch es waren nicht die Blitze, sondern May, die den alten Ort in Regung versetzte.
Die Hohe stand ganz vorne an der Abbruchkante, als würde sie mit dem Gedanken spielen, sich jede Sekunde in die Tiefe zu stürzen. Doch ihr Blick war nicht hinunter auf die aus dieser Höhe nur schemenhaft sichtbaren Häuser gerichtet, sondern in die Höhe, wo das Licht tanzte.
Der Unwettersturm, der selbst den Palast schüttelte, war ungewöhnlich. Doch solange niemand erriet, dass es ein Maneuver war, um etwas weit ungeheuerliches zu verstecken, waren sie einigermaßen sicher.

Ihr Blick schweifte Richtung Horizont, wo sich hinter Häusern und Wald die Stadtmauer gen Himmel erhob. Dahinter, draußen im Niemandsland der Wüste, brannten ebenfalls Lichter. Doch was auf diese Entfernung ein Lichtpunkt war, musste aus der Nähe ein tosendes Feuer sein.
May hatte es gespürt, das Beben, das durch den Erdboden und bis tief in ihre Knochen lief. Hatte gesehen, wie sich Lichtbögen zwischen den Zinnen des Turms gespannt hatten und eine Säule aus Energie in die Höhen geschossen war.

Sie war auf einem Pferderücken gesessen, als es passiert war. Links von ihr der Prinz, dessen Fesseln nun Dominique kontrollierte und nicht mehr sie selbst. Sie waren beide gestürzt, er noch härter als sie. Und dann waren sie nebeneinander auf dem Boden gelegen, während Dominiques Soldaten zu abgelenkt davon waren, dass auch ihre Königin über den Hals ihres Pferdes gesunken war, um sich großartig um sie zu scheren.
Die Tiere hatten es auch wahrgenommen, was auch immer es war. Massenweise waren ihre Pferde durchgegangen. Sie suchten immer noch nach dem der Königin.

May hatte gen Himmel gesehen und das höhnische Funkeln der Sterne lebte. Hufe donnerten knapp neben ihrem Kopf auf die Erde und sie zuckte nicht einmal. Die Welt war still geworden, die Soldaten um sie her nichts als Schatten. Hinter ihnen wölbte sich der Nachthimmel in die Höhe. Sie sah ihren Göttern ins Gesicht.
Sternschnuppen gingen auf die Erde nieder, hunderte, tausende, während ihr Körper krampfte, als wäre sie vergiftet worden. Sie dachte einen Moment, sie hätte einen Schlag auf den Kopf bekommen, doch dann drehte sie in ihrem Trance den Kopf und sah Julian neben sich liegen.

Sein weißes Hemd war dreckig und voller Blut. Ein Arm lag immer noch ausgestreckt über seinem Kopf, als wäre er genau so liegen geblieben, wie er gefallen war. Sein Blick ging in die Höhe, genau wie ihr eigener bis vor einigen Sekunden. Horror stand auf seinem Gesicht, der auch nicht verschwand, als man ihn grob auf die Beine zerrte. Es war eine tiefere Angst, als May sie fühlte.
Die Erschütterung sorgte dafür, dass sie ihn das erste Mal seit Dominiques Enthüllung ansah, ohne an Ascob zu denken. Sie sah es an seinem Blick, als er die zitternde Hand hob, um sich über das Gesicht zu fahren. Er, der Mörder ihres Bruders. Ausgerechnet er wusste mehr als sie.

Zu seinen Füßen lagen die Fesseln, die Dominique ihm auferlegt hatte. Sie waren zerbrochen. Man half May auf die Beine und richtete Waffen auf Julian. Keine tödlicher als Mays Augen. Doch er machte keine Anstalten sich zu wehren. Er sah die Männer nicht einmal an, die ihn gepackt hatten, sondern tat alles, um den Kopf weiter in den Nacken legen und in Richtung Himmel blicken zu können. May blickte nach rechts, wo man versuchte Dominique auf die Beine zu helfen.
Die Königin war aschfahl geworden. Sie war umschwärmt von ihren Untergebenen, die alle besorgt Hilfe anboten. May spürte den Blick der Königin auf sich, noch lange nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Die Soldaten hatten nichts gespürt von dem, was über sie hinweg gerollt war. Nur Julian, Dominique und sie selbst hatten darauf reagiert. Und wie sie das getan hatten.

„Was war das?", flüsterte sie, sobald Dominique sich abgewandt hatte. May zitterte so unkontrolliert, dass das Pferd entnervt mit den Ohren zuckte. Sie erwartete nicht, dass Julian antwortete, doch er tat es.

„Wenn dir dein Leben lieb ist, May Silencia, dann kommst du zu mir, bevor sie mich umbringt."

May schluckte. Sie hatte diesen Mann vor wenigen Stunden an seine Schwester verraten. Doch da war kein Hass in seinen Augen, als er sie ansah. Sie wünschte, sie könnte dasselbe von sich behaupten. Die Soldaten waren blind für das, was geschehen war. Hatten nicht einmal bemerkt, dass etwas anders geworden war. Doch Julian, Dominique und sie selbst hatten die Leere gesehen, die über ihnen gähnte. Ein sternenloser klarer Himmel. Dann hatte die Kuppel geflackert und die Lichter im Nichts waren zurück. Doch was May in dem Moment gefühlt hatte, wollte sie nie wieder fühlen. Inzwischen waren Tage vergangen und viele Dinge um sie her hatten sich verändert. Der Himmel trug die Sterne, wie gewöhnlich. Doch die Hohe saß immer noch dort und starrte hinauf. Paranoid, erwartungsvoll.
Und nun hatte es begonnen außerhalb der Kuppel zu blitzen. So stark, dass man es nicht verbergen konnte vor der Stadt.

„Etwas hat sich verändert", flüsterte May Silencia, während ihre Mutter ihr den Mantel wieder fester um die Schultern zog, „Ich kann es fühlen."

Barisse fuhr eine Gänsehaut über die Schultern, über den Bauch, der dieses seltsame Kind hervorgebracht hatte.

„Was fühlen, Liebes?"

Mays Augen flackerten zurück zum grauen Horizont.

„Die alte Welt regt sich. Und der Himmel mit ihr."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 06 ⏰

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