Kapitel 4

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Die Fahrt zu meinen Eltern läuft ab, wie sie meistens abläuft: Ich hoffe, die Anschlussbahn noch zu erwischen, aber weil diejenige davor Verspätung hat, kann ich höchstens noch am Bahnhof stehen und den roten Rücklichtern traurig hinterherwinken. Und die Versuchung ist groß.

Also stehe ich mir am Bahnhof eine halbe Stunde die Füße in den Bauch und frage mich, ob es sich lohnt, meine Lernzettel herauszuholen. Aber ich weiß, dass ich mich bei dem Lärm hier am Bahnhof sowieso nicht konzentrieren kann, deswegen lasse ich es dann doch sein.

Als ich nach einer halben Ewigkeit bei meinen Eltern ankomme, ist es schon 13 Uhr und ich weiß bereits jetzt, dass ich nicht vor heute Abend wieder daheim sein werde. Wieder einmal werde ich eine Entscheidung zwischen ausreichend Schlaf und Univorbereitung treffen müssen.

Vielleicht liegt mir deswegen ein Seufzen auf den Lippen, als ich auf die Klingel drücke, die von einem Schild aus Salzteig umrahmt ist, in das Helene und ich früher mit Kindergarten-Geschicklichkeit unsere Namen geritzt haben.

Mein Vater öffnet mir die Tür. „Nele! Wie schön, dass du hier bist!", dröhnt er.

Als wir uns über seinen Bierbauch hinweg umarmen, kann ich mich für einen kleinen Augenblick in der Illusion verlieren, acht Jahre alt zu sein. Er riecht genau wie immer, nach verschiedenen Gewürzen und ein bisschen Rauch.

Die angenehme Wunsch-Realität zerbricht aber schon einen Moment später, als mir bewusst wird, welchen Tag und welche Uhrzeit wir haben.

„Warum bist du daheim?", frage ich vorsichtig und schiebe ihn ein Stück von mir weg.

Sofort verdüstert sich seine Miene und seine dicken schwarzen Brauen, von denen ich genau weiß, wie lustig sie in alle Richtungen zucken können, schieben sich zusammen. „Komm doch erst einmal rein", sagt er tonlos und das ist eigentlich schon alles, was ich wissen muss.

Mein Vater spricht niemals tonlos, er hat das Energielevel eines siebenjährigen Jungen nie verloren.

Das Geräusch, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, fühlt sich an, als wäre ich in eine Falle gelaufen. Warum habe ich dieses Gefühl im Moment andauernd?

Ich folge meinem Vater ins Wohnzimmer, wo meine Mutter schon auf uns wartet. Sie sitzt auf einem Sessel und hat eine rote Kuscheldecke über ihre Beine gelegt. Als sie mich sieht, strahlt sie und streckt mir die Arme entgegen. „Nele! Wie schön, dass du hier bist!", sagt sie exakt die gleichen Worte wie mein Vater.

Sie steht nicht auf, um mich zu begrüßen, also muss ich mich zu ihr hinunterbeugen. Mein Vater bleibt stocksteif hinter uns stehen und ich brauche weder seinen noch den Input von meiner Mama, um zu erkennen, was los ist.

„Es ist schlimmer geworden, oder?"

Dass keiner von ihnen mir antwortet, bestätigt meine Vermutung. „Wie schlimm ist es?", will ich wissen und ich kann hören, wie hart meine Stimme klingt.

Es muss schlimm sein, wenn mein Vater sein kleines Restaurant heute geschlossen hat, um stattdessen hier sein zu können. Der letzte Schub bei meiner Mutter ist schon mehr als ein Jahr her, und obwohl ich immer wusste, dass der nächste irgendwann kommen würde, fühlt es sich trotzdem an, als hätte mich eine Keule in die Magengegend getroffen.

„Das wissen wir noch nicht. Es verläuft nicht vorhersehbar", sagt meine Mutter schließlich nach einigen Momenten des Schweigens. So nennen sie und mein Vater ihre Krankheit schon lange. Es. Als könnte mit dem Klang von Multiple Sklerose ein Dämon in ihrem Wohnzimmer heraufbeschworen werden. „Willst du dich nicht setzen, Nele?"

Ich will mich nicht setzen. Aber ich tue es trotzdem, um sie nicht aufzuregen, aber halte den Rücken gerade und durchgedrückt. „Was sagen die Ärzte?", frage ich scharf.

Teufels SpielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt