Kapitel 3

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Der Junge hielt die Welt in seinen Händen. Eine unscheinbar wirkende Box, die von außen grau und verwittert im antiken Schrank unter Staub begraben lag, öffnete ihm nun eine Welt voller Wesen und Freiheiten, die er so noch nie erlebt hatte.

Wie unheimlich gerne er die kleinen Feen beobachtete. Wie sie miteinander tobten und spielten. Sie sangen zusammen Lieder und lachten. Fasziniert und überwältigt von all den diversen Eindrücken, verstummte sogar das Ticken der Wanduhr, und das bedrohliche Tick-Tack verschwand aus seinem Kopf.

Wie still seine Welt nun plötzlich war, so fern von jeglicher Folter und Zeitdruck. Zum ersten Mal verspürte der Junge die Freiheiten, die andere Kinder verspürten. Er freute sich, und in ihm wuchs der Drang, dabeizusein.

„Hey! Ihr! Ich möchte mitspielen, bei eurem Spiel. Ich möchte mich auch verstecken, dass mich jemand sucht und findet. Ich möchte auch, dass ihr mir hinterherjagt und mich fangen wollt", rief der Junge energisch. Aber mitspielen konnte er nicht. Wie sollte er auch in diese Box hineinpassen? Seine Faust war viel zu groß, seine Knöchel blieben an der Holzkante hängen.

Egal wie sehr er drückte und stopfte, war er doch außerhalb ihrer Welt unerreichbar und entfernt. Und so blieb ihm nur, dem Spiel der Feen zuzuschauen.

In seiner Beobachtung lernte er die Feen kennen. Er erhaschte in dem Geflüster der Wesen ihre Namen und sogar ein paar ihrer Eigenschaften. Einige der Feen zeigten ihm ihre Welt. Nichts wollten sie ihm verheimlichen. Sie zeigten alles, was sie zum Funkeln gesammelt hatten, ihren Schmuck, ihren Glanz, sie zeigten ihm die alten Feen, denen sie besondere Weisheit zusagten. Sie zeigten ihm den schlafenden Lutz – eine Fee, die offenbar nur am faulen Herumliegen und Sonnenbaden interessiert war, und auch gerade mit einem winzigen Strohhut in einer Krone eines Ahorns schlummerte. Sie zeigten ihm die fleißige Lisa, die vorbildlich für das Dorf die schmackhaftesten Gerichte am Kochen war. Er lernte auch die Fee Mona kennen, die häufig das Wort ergriff und dem Jungen Dinge über diese Welt erzählte. Er lernte auch den kleinen Willi kennen, eine Fee, die immer gut darin war, einen Witz auf der Zunge zu haben und das Dorf in so vielen Punkten zu erheitern. Und er lernte noch viele mehr kennen, deren Namen er sich jedoch nicht merken konnte.

„Ihr seid eine tolle Gruppe! Nun weiß ich, was es bedeutet, Freunde zu haben. Der General hat es mir verboten, die Kinder meiner Klasse mit nach Hause zu bringen. Er meinte, sie seien nicht die Umgangsform, die er sich für mich wünscht. Weichgensonne, die nur so von Disziplinlosigkeit strotzen."

Da fiel dem Jungen ein kleiner Unterschied zwischen sich und den Feen auf. Sein Vater erzählte ihm, wie gleich alle zu sein haben. Und um diesen Punkt zu verdeutlichen, wurden dem Jungen an jedem Sonntag die nachwachsenden Haare mit einem scharfen Rasiermesser auf drei Millimeter geschoren. Wehe dem Jungen, der sich diesen Worten widersetzte. Aber bei den Feen war die Haarpracht so unterschiedlich. Der Generalinspektor machte keine Fehler, und er duldete noch viel weniger die Versäumnisse. „Hey, Lutz! Warum sind deine Haare so wuschelig und lang? Sie gehören doch auf drei Millimeter!", fragte der Junge. Lutz begann sich rege zu bewegen. Er streckte in aller Ruhe seine Arme in der warmen Mittagssonne und schob den Strohhut beiseite, um die ganze Haarpracht zur Schau zu stellen. „Meine Haare? Warum sollten sie nicht so sein wie sie sind? Um ehrlich zu sein, lege ich keinen großen Wert auf sie. Sie wachsen mit ständig in die Augen, und dann lasse ich sie von der fleißigen Lisa schneiden", antwortete Lutz und legte sich sogleich wieder schlafen. Der Junge fuhr sich durch die Haare. Die kleinen Stoppeln kratzten an der Haut seiner Hand. Dabei kamen ihm viele Fragen in den Sinn. Ob sie wohl auch kratzen würden, wären sie länger? Wie es wohl aussehen würde, wenn seine Haare nicht geschnitten würden? Was wäre wenn....

Dong! Dong! Dong! Die Uhr schlug gnadenlos das Pendel an das Holz. Sie sang das verhängnisvolle Lied. Der Inspektor machte sich auf den Weg und würde gleich das Gelernte abfragen.

Dem Jungen stockte der Atem. Wann war der Zeiger so weit vorgerückt? Nein, es musste wohl ein Traum sein, in dem er versunken war, denn die Uhr schien sich gar lustig über ihn zu machen. Seine Gedanken kreisten in schierer Panik, denn das Kneifen und Zwicken erweckten ihn nicht aus seiner Misere. Schon hörte er die Kampfschuhe, die immer da an den Füßen des Inspektors hafteten, das Holz der Treppe quälen – wie es vor Angst wimmerte.

Der Junge zitterte. Sollte der Inspektor diese Schachtel finden, so würde er sie ihm wegnehmen. Nein! Er würde sie vor den Augen des Jungen ohne Frage samt dem Inhalt verbrennen. Oder Schlimmeres.

Eines war dem Jungen klar: Die Box durfte niemals in die Hände des Generalinspektors fallen. Eilig verstaute er die Box im Schrank, verschloss die Eichentüren und nahm sich das erstbeste Buch aus dem Regal, um sich dann auf den Korbstuhl zu setzen. Dabei bemerkte der Junge, wie schnell sein Herz schlug. Das Blut pumpte gar in seinen Ohren, denn er wusste nun, dass wenn der Inspektor kam und ihn zu seinem Lernstand befragen würde, könnte er ihm nur antworten, nichts gelernt zu haben, und auch dies würde negative Konsequenzen mit sich bringen.

Das Donnern der Schuhe vor der Tür verstummte. In schierer Furcht schaute der Junge, wie sich der Schlüssel von außen in das Schlüsselloch zwang und es drehte. Dann bog sich die handförmige Eisenklinke herab, und die Tür begann sich zu öffnen.


Der Generalinspektor [ONC 2024]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt