Kaptiel 6

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Wann der Junge sein Zimmer verlassen durfte, entschied er nicht selbst, sondern die Uhr. Alles in seinem Leben war vorgegeben – autokratisch diktiert, sodass es das „Beste" für ihn war. Die Standuhr schlug viermal laut, dann zweimal leise. Damit wusste der Junge, dass er nun die Freiheiten im Haus genießen konnte. Mit "Freiheiten" war hier das Essen gemeint. Das Abendessen war angerichtet, und obwohl sein Hintern bei jeder Bewegung ihn an seine fehlerhafte Lernbereitschaft erinnerte, schlürfte er mit ernstem Gesicht durch den Raum, als würde er nicht wollen, dass irgendwer seine Schwäche bemerkte. Ein Soldat sollte stark sein. Ein Soldat durfte nicht klagen und erst recht nicht weinen.

Er zog seine schwarzen Pantoffeln an, deren Ledersohlen immer am gewachsten Holzboden klebten und schmatzende Geräusche machten. Er faltete den Kragen seiner Uniform, kämmte seine kurzen Haare – eine wirklich nutzlose Geste, denn die viel zu kurzen Haare würden sich nicht sonderlich über die Streicheleinheiten scheren, als würde man versuchen, mit einer Gabel Wasser zu essen. Die Haare würden die harten Borsten der Bürste vorbeifahren lassen und sich wieder in ihre ursprüngliche Position zurückbegeben, bis der Kamm das nächste Mal vorbeistrich. Letztendlich legte der Junge den Kamm zurück in genau die gleiche Position, wo er das Haarbesteck zuvor entnommen hatte.

Er verließ sein Zimmer, schloss die Tür und lauschte dem regen Treiben.

Der Generalinspektor war nicht zu sehen. Niemand wusste, wo er zu dieser Zeit war, und niemand fragte danach.

Als Mann in einem so hohen Amt verdiente der Inspektor genug, um sich Bedienstete zum Putzen zu halten. Auch diese wurden von der Uhr überwacht. Auch sie hatten wie Vögel zu singen, um ihre Obrigkeit wie Sonnenblumen die Sonne zu würdigen. Im Gleichschritt und in gleichem Marsch, bekräftigend Singend schufteten und schrubbten die Damen den teuren Parkettboden. Sie polierten, bis die Dielen so glänzten wie die Orden an den Wänden, wie die Statuen in den Schränken und wie die blendend weißen Zähne im Porträt des Inspektors, das fast wie seine reale Wirklichkeit die Arbeiter auf Schritt und Tritt betrachtete und überwachte.

Das Bild an sich war nicht sonderlich bemerkenswert. Es zeigte den General in stattlicher Haltung, seine linke Hand ruhte auf dem Griff eines Rapiers, das an seiner Hüfte hing. Im Hintergrund beteten ihn die Götter der Zeit kniend an und schauten zu ihm auf. Bilder lügen! Der General lachte nie. Niemals.

Dem Jungen war es erlaubt, in dieser Zeit in den Speisesaal zu gehen und seine Mahlzeiten einzunehmen. Sicherlich war der Tisch bereits gedeckt, die Vorhänge zugezogen und nur das schwache Licht des Kronleuchters an der Decke würde den kargen, kalten Raum erhellen.

"Schau, da ist der Junge Herr!", tuschelten zwei Bedienstete hinter vorgehaltener Hand. Sie wussten nicht, dass ihre Talente im Flüstern nicht besonders gut ausgeprägt waren. Dennoch entschied der Junge, sie vorerst nicht weiter zu beachten. Beide waren sie noch nicht lange im Dienst. Selten hatte der Junge sie gesehen, und dennoch waren ihre Meinungen über ihn und seinen Vater gefestigt und voller Abscheu.

"Er tut mir so leid."

"Mir auch. Sein Vater erzieht ihn wie einen Hund!"

"Nicht wie einen Hund. Eher wie einen Soldaten!"

"Gibt es wieder Krieg?"

"Nein! Ich kann es mir nicht vorstellen."

"Warum sollte ein Vater dann solch eine Erziehung wollen?"

"Weil er möchte, dass der Junge einmal in seine Fußstapfen tritt."

"Glaubst du das wirklich?"

"Natürlich. Schau ihn dir an. Er ist genauso versessen auf diese abstruse Pünktlichkeit."

Der Generalinspektor [ONC 2024]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt