Kapitel 3 - 605 Tage in Gefangenschaft

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Gedankenverloren starrte Jennie auf die feinen Narben die ihre Finger schmückten und sie nur zu deutlich daran erinnerten, dass es niemals sein würde wie früher.

Oh, wie gern sie sich einreden würde, dass früher etwas für sie bedeutete. Aber sie hatte keine Vergangenheit, auf die sie aufbauen konnte. Keine Gegenwart, die sie stärkte.
Nichts als naive, verzweifelte Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Auf Freiheit.

Auch jetzt, nach fast einem Jahr waren die Narben kaum verblasst, und Jennie machte sich nicht die Mühe darauf zu hoffen, dass sie jemals verschwinden würden.

Wie auch?
Wann immer Jennie ihre verhärteten, spitzen Nägel ausfuhr, bluteten ihre Finger. Es hörte nicht dadurch auf, dass sie es regelmäßig tat.
Es fühlte sich jedes Mal aufs neue so an als würde jemand ihre Fingernägel herausreißen, und doch musste sie jedes Mal aufs neue da durch.

"Genug ausgeruht, zurück zum Training!",

keifte der Ausbilder und klatschte laut in die Hände. Jennie seufzte, stellte ihre Trinkflasche ab und bandagierte ihre Hände wieder. Dann schlenderte sie zurück zum Boxsack, dehnte sich kurz und begann zu boxen.

Es half, sich Leute vorzustellen die sie hasste, während sie auf den Sack einschlug. Zahllose Gesichter tauchten in Jennie's Unterbewusstsein

Der Junge, der sie in der Grundschule damals gehänselt hatte.

Wamms

Jennie genoss den brennenden Aufprall von Hand und Boxsack. Es ließ sie lebendig fühlen, frei fühlen. Es erinnerte sie daran noch nicht aufzugeben.

Die arroganten Kadetten, die nichts besseres zu tun hatten als Jennie ständig zu belästigen.

Zack.

Wamms.

Zack-zack.

Ein Schlag für jedes Gesicht das sie mit ihren Nägeln ruinieren wollte, zum bluten bringen wollte, bis außer Fleischfetzen und Blut nichts mehr zu erkennen war.

Ihr Vater.

WAMMS!

Jennie schlug so hart zu, dass ihre Hand nach dem Schlag pulsierte, und das Geräusch durch die Halle schallte.
Für ein paar Sekunden starrte Jennie auf den Bocksack, dann schnappte sie nach ihrer Flasche und flüchtete aus der Trainingshalle. Sie ignorierte die teils neugierigen, teils abfälligen Blicke der anderen Kadetten.

Sie hasste es.

Warum nur war sie so unfassbar emotional?
Warum zog sich ihr Herz noch immer schmerzhaft zusammen, wenn sie nur an ihn dachte? Warum konnte sie ihre verfluchten Gefühle nicht einfach abtöten.

Sie schloss die Tür zur Klo Kabine ab und rutschte kraftlos an der Wand herunter.

"Stirb...",

flüsterte sie und schlug gegen ihre Brust.

"Stirb."

"Stirb!"

Sie schrie ihre ganze Verzweiflung aus der Lunge und hämmerte gegen ihre Brust, als könnten ihre Worte ihr Herz erreichen.
Ihr gesamter Körper bebte unkontrolliert.

"STIRB VERDAMMT NOCHMAL!",

kreischte sie.
Ihr Echo schrie zurück, dann war es still.
Eine warme Flüssigkeit sickerte durch ihr Hemd und durch die Bandagen. Jennie seufzte und zog ihr Hemd aus, nur um darunter die Spuren ihrer eigenen Fingernägel zu sehen, die ihre Haut durchdrungen hatten und sie bluten ließ.

Upside down (german version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt