Kapitel 2 - Julien

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Ich greife nach dem dicken, blauen Biochemie Lehrbuch, das ich seit einer geschlagenen dreiviertel Stunde gesucht habe, und atme auf. Ich schließe kurz die Augen und sauge den typischen Geruch einer großen Bibliothek wie dieser auf. Genieße den trockenen, unverkennbaren Duft von Papier und bilde mir ein, sogar die Druckerschwärze riechen zu können.
In diesem Moment legen sich kühle, zarte Finger auf meine und umklammern gemeinsam mit ihnen den dicken Wälzer.
Mein Kopf ruckt nach rechts und ich tauche ein, in sanfte, dunkelbraune Espressoaugen, die mich so weich umhüllen wie eine warme Kuscheldecke im Winter. Was zur Hölle?

Das Buch ist das letzte Exemplar dieser Ausgabe, das derzeit in der Uni-Bibliothek verfügbar ist. Ganze fünfundvierzig Minuten habe ich beim Suchen vertrödelt, weil es nicht an seinem Platz stand. Weil es irgendein dämlicher Trottel achtlos in einem falschen Abschnitt auf eine Reihe Anatomiebücher gelegt hat.
Die Bibliothekarin hat auf mein Nachfragen hin ihr schlaues System befragt. Von acht vorhandenen Exemplaren war genau eines als verfügbar gekennzeichnet. Alle anderen sind ausgeliehen. Daher habe ich sämtliche Gänge mühsam abgesucht. Und nun erhebt der vor mir stehende, heiße Kerl mit den sanften Kuscheldeckenaugen, Anspruch darauf. Will mir das Buch wegnehmen, das ich so dringend zum Lernen für die anstehende Semesterarbeit in Biochemie benötige.

Die imaginäre Kuscheldecke hält mich weiter umfangen und lullt mich ein, während die Mundwinkel meines Gegenübers langsam nach oben zucken.
Der Wälzer wird wie von Zauberhand aus dem Regal gezogen.
Die Finger des Kuscheldeckenkerls üben dabei mehr Druck auf meine Hand aus und mir entweicht ein leises Seufzen.
»Nein!« Ich schüttle energisch den Kopf, um alles Störende aus meinem Hirn hinauszurütteln und mich zu konzentrieren. »Schluss damit. Nimm deine Kuscheldecke weg und gib mir das Buch. Ich hatte es zuerst und ich brauche es!«
»Was soll ich wegnehmen?« Er mustert mich mit schief gelegtem Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich muss übermorgen eine Hausarbeit abgeben und habe bisher keinen Strich getan, weil mir das Buch gefehlt hat. Und ich habe den halben Vormittag damit verbracht, es hier zu suchen.«

Goooott, diese Stimme ist genauso samtig, wie die Decke weich ist. Mittlerweile stehen wir uns gegenüber, liefern uns ein Duell. Jeder hat beide Hände am Buch. Die Blicke ineinander verhakt.
Meine Augen ziehen sich ganz von selbst zu kleinen Schlitzen zusammen, als mir bewusst wird, dass ich die Sahneschnitte vor mir bisher noch nie in einem meiner Kurse gesehen habe. »Was studierst du? Ich kenne dich gar nicht. Das ist ein Lehrbuch für Tiermedizin.«
»Ich weiß. Deswegen brauche ich es ja.«
»Aber du studierst gar nicht Tier...«
Er fällt mir frech ins Wort. »Ich studiere Bio und Chemie und muss bis übermorgen einen Vergleich über die Stoffwechselvorgänge von zwei Affenarten abgeben. Das Einzige, das mich jetzt noch retten kann, ist dieses verdammte Buch!«

»Dann hättest du vielleicht mal früher anfangen sollen, dich darum zu kümmern. In zwei Tagen eine Hausarbeit zu schreiben, ist utopisch.«
»Ich weiß, aber ... es gab noch so viel anderen Kram zu erledigen und dann hab ich die Hausarbeit total vergessen. Und Affen liegen mir nicht.« Er lässt das Buch mit der rechten Hand los und fährt sich damit durch die dunkelbraunen, kurzen Haare und hinterlässt eine breite verstrubbelte Bahn auf dem Kopf.
Seine Augen verlieren an Glanz und zeigen mir damit, dass er es ernst meint. »Bitte?«
In diesem Augenblick bin ich verloren. Mein Lernpensum ist hoch, aber ich bin bisher gut vorbereitet. So ein Arsch bin ich nicht, dass ich andere hängenlasse. Mit einem tiefen Seufzen lasse ich den Biochemiewälzer los. »Okay. Du kannst es haben ... Unter einer Bedingung!«

Mein Gegenüber ist ein paar Zentimeter kleiner als ich und sieht mich von unten herauf an.
Ich erreiche beinahe den Schmelzpunkt.
»Welche?«
»Das kostet dich einen großen Kaffee, ein Stück Kuchen und ich bekomme das Buch, sobald du übermorgen deine Hausarbeit abgegeben hast! Ich brauche es wirklich dringend für meine Semesterarbeit!«

Er schlägt, ohne zu zögern, in meine ausgestreckte Hand ein, drückt sich das Buch an die Brust und haut mich mit seinem breiten Lächeln aus den Socken.
»Wollen wir den Kaffee jetzt gleich trinken?«
»Nee, mein Lieber. Mach, dass du diese affige Hausarbeit fertig bekommst, damit ich anfangen kann zu lernen.« Ich brauche dringend frische Luft. Und Abstand. Man kann doch nicht jemanden beim Kennenlernen schon anspringen wollen. Oder? Was stimmt nicht mit mir? Der Kerl verknotet meine Synapsen und wirft mich völlig aus der Bahn. Ich drehe mich auf dem Absatz um und laufe mit großen Schritten Richtung Ausgang.
Kurz vor Erreichen der schweren, dunkelbraunen Bibliothekstür packt eine Hand meine Schulter und wirbelt mich herum.

»Hey, du hast mir deinen Namen gar nicht gesagt. Und am besten gibst du mir auch gleich deine Telefonnummer, damit ich dich anrufen kann, sobald ich das Buch nicht mehr brauche.«
»Ähm. Oh. Stimmt. Daran habe ich gar nicht gedacht.« Ich muss aufhören, ihm in die Augen zu schauen. Das macht mich fertig.
»Ich bin Raffael.« Er grinst.
»Julien.« Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und bin froh, die Augen dem Display zuwenden zu können. »Gib mir deine Nummer, dann ruf ich dich an.«

Zehn Minuten später haben wir das Buch austragen lassen, die Nummern getauscht und stehen auf dem Bürgersteig vor der Bibliothek.
»Ich muss hier lang.« Die schweißnassen Hände in den Hosentaschen vergraben, nicke ich mit dem Kopf nach links.
»Okay. Ich muss in die andere Richtung. Dann bis übermorgen. Drück mir die Daumen.« Raffael winkt mir zu und verschwindet mit großen Schritten um die Häuserecke.
Ich stehe geschlagene fünf Minuten auf dem Campus herum, starre Löcher in die Luft vor mir und vermisse die imaginäre Kuscheldecke, die Raffael mit sich genommen hat. Und dabei ist es ein warmer Tag mitten im Mai. Wer braucht da Kuscheldecken?

Crossing my subspace (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt