Albträume

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Ich laufe durch ein Maisfeld. Es hört nicht auf, egal wie weit ich renne. Nur Mais, Mais, Mais, so dicht, dass ich den Sternenhimmel nicht erkenne. Ich stolpere. Es tut nicht weh, als ich auf den Knien lande. In der Dunkelheit vor mir liegt ein Bündel Stoff auf dem Boden. Ich fasse nicht danach, ich weiss instinktiv, was es ist. Im Dreck liegt graublondes Haar.

Es kleben Strähnen quer über mein Gesicht, als ich jäh aufwache. Einen Moment lang starre ich orientierungslos in die Dunkelheit meines Zimmers hinaus, das Grauen aus dem Albtraum verzerrt mein Denken. Verstört wische ich mir das schweissnasse Haar von Wangen und Stirn. Das ist nicht das erste Mal, dass ich so aufwache, die Albträume kommen und gehen im Wochentakt. In den letzten Tagen träume ich oft von Elisei. Es sind keine guten Träume. 

Ich nehme einen Schluck aus der Pet-Flasche auf meinem Nachttisch. Er war seltsam bei unserem Gespräch, denke ich müde. Zu ruhig, zu entspannt. Ich kenne Elisei nicht gut, aber in den Tagen, in denen ich mit ihm war, war er viel, aber nie ruhig, immer nervös und offensiv widerspenstig. 

Gähnend komme ich auf die Beine, schmeisse die Bettdecke zurück, die sich an mir verheddert hat. Die nackten Füsse kleben leicht an Moritz gefliestem Boden, als ich die Zimmertür öffne und in den dunklen Flur hinaustrete. Frag einfach, hat Elisei gesagt. Es ist seltsam, zuvor hat er mir nie auf irgendwas geantwortet. Der Speichel in meinem Mund schmeckt plötzlich bitter.

"Luis?", höre ich Moritz fragen. Er sitzt auf dem Sofa, den Laptop noch aufgeklappt, sein Gesicht wird vom Bildschirm blau erleuchtet. "Alles in Ordnung?"

"Ja", bringe ich heiser vom Schlaf hervor. "Bin bloss aufgewacht."

Er klopft neben sich aufs Polster. "Hattest du wieder einen Albtraum?"

Ich zucke mit den Schultern und lasse mich auf die Couch sinken. "Wollte Cem nicht kommen?"

"Er arbeitet die Nacht durch", erwidert Moritz mit einem Blick auf die Uhr, die auf kurz vor halb zwei steht. "Willst du einen Tee?"

"Nein", meine ich knapp und lehne mich gegen seine Schulter. Es fühlt sich noch immer unnatürlich an, das zu tun, selbst Moritz merkt das. "Was ist los?", fragt er sachte.

"Ich weiss nicht. Elisei war seltsam, als ich ihn getroffen habe. Ich weiss, man nimmt Menschen in Ausnahmesituationen anders wahr und alles, aber...ich hab ihn im Verhör gesehen. Er war anders gestern."

"Wie anders?", fragt Moritz nach. Er zieht die Decke über meine Beine. 

"Er war so ruhig", sage ich und merke selbst, wie dumm das klingt. "Nein, ich meine...mit mir oder beim Verhör...er war ängstlich und trotzig und alles. Und jetzt war er einfach ruhig. Als wäre er völlig entspannt. Hast du das nicht gesehen? Du hast doch eh zugehört?"

"Ich hab nicht zugehört", erwidert der Polizist mild. "Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber er ist gerade in einer Ausnahmesituation und hat wahrscheinlich die letzten Tage kaum geschlafen. Er ist sicher sehr erschöpft, vielleicht hat er gerade einfach nicht die Kraft zu mehr."

Ich schüttle stumm den Kopf, obwohl mir klar ist, dass er Recht hat. Ich war auch schon so endlos erschöpft, dass ich irgendwann kaum mehr ängstlich sein konnte. Nach Hannes zum Beispiel. 

"Ich hab ein schlechtes Gefühl."

"Luis", meint Moritz mit einem kaum merklichen Seufzen. "Sie haben professionelle Leute, die sich um ihn kümmern, keine Sorge. Versuch dich da nicht so rein zu steigern. Es ist mitten in der Nacht, du hast schlecht geträumt und bist selbst erschöpft. Morgen hast du vielleicht einen anderen Eindruck davon."

"Nein", murmle ich und lehne mich näher an ihn, weil mir die Wärme meines Betts plötzlich sehr fehlt. "Kannst du nicht einfach Cem anrufen und fragen, ob es ihm gut geht?"

"Luis", wiederholt Moritz sachte und legt einen Arm um mich. "Es ist halb zwei in der Nacht. Es ist wirklich zu spät und Cem muss arbeiten. Du kannst ihn in ein paar Stunden fragen, wenn er zum Frühstück kommt."

Ich begegne stumm seinem Blick. Mein zerzaustes Gehirn bringt kein einziges sinnvolles Gegenargument zustande. Wir verharren eine Weile so, er mustert mein verbissenes Gesicht einfühlsam.

"Okay, meinetwegen", sagt er schliesslich und tätschelt beiläufig meinen Kopf an seiner Schulter. "Damit du nachher ruhig schlafen kannst."

Er wählt Cems Nummer, ich höre sie kurz miteinander reden. "Okay, ich ruf in fünf Minuten zurück", sagt seine müde Stimme am anderen Ende der Leitung. Dreissig Sekunden, 2 Minuten, 3 Minuten. Die Zeiger der Uhr über dem Esstisch schleichen quälend langsam vorbei. Fünf Minuten vergehen, zehn, zwanzig.

"Warum ruft er nicht an?", frage ich.

"Er hat viel zu tun, er wird sich schon melden, wenn was ist."

"Sicher?"

Moritz nickt.

"Sicher. Komm, geh ins Bett, bevor du hier einschläfst. Ich bleibe ohnehin noch länger wach, ich höre, wenn er anruft."

Wie ein kleines Kind wanke ich barfuss die paar Schritte zurück zu meinem Zimmer, sinke in mein zerwühltes Bett. Das Klicken von Moritz Computer hinter der Tür schläfert mich ein wie ein Gutenachtlied. 

Es ist hell draussen, als ich das nächste Mal aufwache. Hinter den gekippten Fenstern im Wohnzimmer gurren Tauben, die frühmorgendliche Stadtluft sickert durch den schmalen Spalt hinein in den abgedunkelten Raum. Moritz sitzt am Esstisch und tippt in sein Handy.

"Hey", sagt er, als ich mit nackten Füssen über die Dielen trete. Das hey an sich genügt, um zu merken, dass etwas wirklich nicht in Ordnung ist. 

"Was ist?", frage ich heiser und lasse mich ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken.

Moritz zögert viel zu lange, seine Hand rührt unentwegt in der grossen Tasse tiefschwarzen Kaffees vor ihm.

"Es tut mir leid", meint er und sieht mir dabei direkt ins Gesicht. "Es geht um Elisei. Er wurde heute Nacht wegen eines Suizidversuchs ins Krankenhaus eingeliefert. Aber er ist in einem stabilen Zustand und scheint nichts Bleibendes davon getragen zu haben."

Suizidversuch. Mir wird schwindlig. Frag einfach, hat er mich angewiesen. Den Rest des Satzes habe ich bei unserem Gespräch übersehen. Frag einfach, bevor es zu spät ist. 

"Wer hat ihn gefunden?", frage ich mit einem faulen Geschmack im ausgetrockneten Mund. Eigentlich will ich fragen wie

Moritz sieht runter auf die Tischplatte, wo ein hellbrauner Kaffeefleck eingetrocknet ist. Starrt diesen hässlichen Fleck so lange an, als müsste er darin ein Bild erkennen. 

"Cem", sagt er schliesslich. "Du hattest schon Recht."



Es geht endlich weiter, – ich hoffe, ihr seid immer noch motiviert weiterzulesen! Die Updates kommen ab jetzt wieder regelmässig :)

Könnt ihr verstehen, warum Elisei versucht hat sich das Leben zu nehmen? 

Und wie findet ihr Luis Beziehung zu Elisei? Zu obsessiv?

Nächste Woche geht es hier noch mal weiter. Vielen Dank für all eure lieben Kommentare und Votes, ohne euch würde ich nicht mehr hier schreiben.

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