As The Crow Flies

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Beim Anfassen dieser Krähen auf den Bäumen würde ich sehen, wie sie mir den Tod bringen.

Nicht, dass mir ihre penetranten Blicke ein unangenehmes Gefühl bescheren würden oder so. Jedenfalls versuche ich peinlichst genau alles außer diese Krähen wahrzunehmen, als ich aus dem Flughafen Narita in Tokio laufe.

Der obligatorische Gedanke jetzt wird ein neuer Lebensabschnitt für mich beginnen, schießt mir durch den Kopf. An diesen Anflug des Optimismus klammere ich mich, den bitteren Geschmack auf meiner Zunge ignorierend.

Es wird jetzt ein neuer Lebensabschnitt für mich beginnen.

-

Ich trete einen Kieselstein beim Laufen vor mich her, der mich schon seit mindestens zehn Minuten begleitet. Die Gassen in Shibuya rufen eine ungewohnte Zufriedenheit in mir hervor. Vielleicht sind auch die Instant Ramen daran schuld, welche ich gerade in einem Convenience Store gegessen hatte.

Ich stopfe mir meine Hände in meine Jackentaschen, als durch die Gasse eine kühle Brise weht. Diese Jacke ist mir teuer. Ganz respektvoll habe ich sie mir heute Morgen aus dem Zimmer meines großen Bruders gestohlen. Ein Überbleibsel seiner mehr oder weniger coolen Gang-Zeit, in welcher er und seine Freunde sich diese Jeansjacken dadurch individualisiert hatten, indem sie den Kopf eines Wolfes draufgesprayt hatten mit einem krakeligen Schriftzug darunter, welcher das Wort „howl" darstellte. Mittlerweile war der Wolf und der Schriftzug recht verblasst. Zu meiner Verteidigung trägt mein Bruder diese Jacke nicht mehr. Man kann nichts unrechtmäßig stehlen, was keinen Nutzen für den ehemaligen Besitzer hat.

Unter meiner schwarzen Cap konnte man einige blaue Haarsträhnen erkennen, welche hervorlugten. Meine eigentlich schulterlangen Haare hatte ich unter meiner Cap zu einem Knoten gebunden, damit sie mich heute nicht nerven.

Die Ankunft in Tokio konnte gerade nicht besser laufen. Ein Anfang, welcher ganz nach meinem Geschmack verläuft. Jetzt muss nur noch die Schule morgen-

Ich stoße gegen etwas. Gegen jemanden. „Kannst du nicht besser aufpassen?"

Kaum hatten diese gereizten Worte meinen Mund verlassen, hebe ich meinen auf den Boden gerichteten Blick. Plötzlich sehe ich die Welt durch Augen, die nicht mir gehören. Großartig. Nicht schon wieder.

Das Geräusch von brechenden Knochen und spritzendem Blut passt zu dem Bild, was sich meinen Augen bietet. Fremde Fäuste schlagen auf ein Gesicht ein, welches jetzt schon nicht mehr zu erkennen ist. Nur ein Hals-Tattoo in Form eines Tigers könnte noch zur Identifikation beitragen. Der Körper unter mir bewegt sich nicht mehr.

„Mikey! Hör auf!"

„Es reicht, er hat doch schon genug!"

„Komm runter, Mikey."

Meine Augen sind durch Wut getrübt. Die Worte dringen nicht bis zu meinem Bewusstsein durch.

Knack. Knack. Knacks.

Ich atme auf und schubse den Körper, gegen den ich gestoßen bin, heftig von mir. In der Gegenwart ist wahrscheinlich noch nicht einmal ein Augenblick vergangen. Die Wut, die mich gerade noch erfüllt hat, ist noch immer präsent. Mein hasserfüllter Blick richtet sich auf ihn. Trübe Krähenaugen starren mich an.

„Fick dich." Spucke ich dem Blonden vor mir entgegen.

Plötzlich packt eine Hand mich an der Schulter. Ein Kerl mit einem geflochtenen Zopf, ebenfalls blond. An den Schläfen sind seine Haare abrasiert, was ein Blick auf sein markantes Drachentattoo zulässt. Habe ich schon erwähnt, dass er mindestens einen Kopf größer ist als ich?

„Was ist dein Problem, Arschloch? Du bist offensichtlich in ihn reingelaufen. Entschuldige dich!" Sein Tonfall passt sich offensichtlich meinen an.

Die Nachwirkung der Vision erlaubt mir nicht, überhaupt daran zu denken, mich zu entschuldigen. Ich hebe eine Augenbraue. Ich soll mich bei einem Wichser entschuldigen, der einen anderen zu Tode prügelt?

Provoziert beugt sich der Hüne zu mir herab. Ich starre ihm in die Augen. „Lieber. Würde. Ich. Sterben." Jedes einzelne Wort betone ich.

Doch bevor diese Situation eskalieren kann, greift der andere nach seinem Arm und zieht ihn zurück. „Lass gut sein, Kenny. Ich sterbe vor Hunger. Lass uns gehen." Sein Tonfall klingt verspielt, was sich auch in seinem kleinen Lächeln bemerkbar macht. Augenscheinlich haben ihm meine Worte überhaupt nichts ausgemacht.

Noch überraschter bin ich, als der mit dem Drachentattoo sich sogar wirklich auf seine Worte hin zurückzieht.

Die beiden laufen an mir vorbei, würdigen mich keines Blickes mehr. Der Hüne beschwert sich über meine Unhöflichkeit und schnauzt noch rum, dass er mir am liebsten die Scheiße aus dem Leib geprügelt hätte. Das beruht auf Gegenseitigkeit, Wichser.

„Hast du nicht seine Jacke gesehen?" Die Stimme gehört zu dem komischen Typen, in den ich reingerannt bin. Ich schaue über meine Schulter zu dem Traumpaar und bemerke, dass mich der Kleinere von beiden anstarrt. Sein Blick ist undefinierbar. Als er ebenfalls unseren Blickkontakt bemerkt, zucken seine Mundwinkel in die Höhe und er wendet sich wieder der Straße vor sich zu.

Ist das... Vorfreude gewesen?

-

Normalerweise bin ich kein Mensch, welcher seine eigenen Fehler nicht einsieht.

Demnach bin ich normalerweise auch niemand, die fremden Menschen ins Gesicht sagte, dass sie sich... ficken sollten.

Direkt nach meiner Begegnung mit den beiden, die offensichtlich Ärger bedeuten, hatten sich meine Knie wie Wackelpudding angefühlt.

Vielleicht ist es nicht die beste Idee gewesen, sich mit zwei gefährlich wirkenden Kerlen anzulegen. Aber ich werde sie sehr wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben sehen. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt.

Diese Erinnerungsstücke lassen mich vergangene oder zukünftig gemachte Erinnerungen eines Menschen erleben, den ich berühre. Dabei empfinde ich auch die gegenwärtigen Emotionen des Menschen. Solch einen Zorn habe ich noch nie in meinem gesamten Leben verspürt. So alles verzehrend, einnehmend. Im Nachhinein jagt mir das verdammte Angst ein.

Ich habe also gestern die Erinnerung dieses Kerles erlebt. Anscheinend ist Mikey ja sein Name. Also lautet mein zukünftiges Vorhaben ganz einfach: Ich halte mich von Mikey fern.

Zufrieden mit dem Ende dieses Gedankenstranges, strecke ich mich ausgiebig und schaue zu meiner Linken aus dem Fenster.

Mein erster Schultag.

„Hina, ich hab gehört, dass es eine neue Gang in der Stadt gibt. Anscheinend hat sich der Anführer in Shibuya rumgetrieben. Das ist eigentlich das Revier der Toman. Selten dämlich, oder?" Ein Junge mit strohblond gefärbten Haaren bringt ein Mädchen mit korallfarbenen Haaren zu dem Tisch neben mir. Sie scheint zu schmollen. „Es könnte mir nicht egaler sein, Takemichi! Ich hoffe, du holst mich später ab?" Ein Nicken folgte und er verschwindet in Demut. Das Mädchen bemerkt meinen Blick und lächelte sofort.

Ich muss aufhören, Leute so offensichtlich anzustarren. Notiz an mich selbst.

„Ich bin Hinata Tachibana. Aber du darfst mich ruhig Hina nennen. Du bist neu, oder?" Ihre extrovertierte, aber dennoch herzliche Art überfordert mich ein bisschen. Dennoch nicke ich lächelnd.

„Tut mir leid, ich wollte nicht so starren." Hätte ich so ähnlich mal am gestrigen Tage reagiert. Doch sie winkt nur schmunzelnd ab. „Nicht so schlimm. Das war übrigens mein Freund Takemichi. Er hat nur über diese dummen Gangs geredet. Anscheinend gibt es eine neue von denen. Er hat mich den ganzen Schulweg zugelabert. Von wegen, dass ihr Anführer blaue Haare hat und anscheinend ziemlich streitlustig ist." Augenrollend sieht sie mich an.

Reiner Zufall. Es gibt viele Menschen mit blau gefärbten Haaren.

„Aber die haben auch solche Jeansjacken als Gang-Jacken anscheinend. Ein Wolf ist, glaube ich drauf. Und ein englisches Wort. „Howl" oder so. Ich hab nicht richtig zugehört."

Fuck.

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