IV

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Micahs Zeh sollte amputiert werden.

Der Arzt, der die Amputation durchführen sollte, besaß kaum noch Haare und balancierte ein rundes goldenes Brillengestell auf seinem gekrümmten Nasenrücken, während er Micah in schwer verständlichen Worten erklärte, wie die Operation ablaufen würde. Bei dem Wort Knochensäge schluckte der Junge schwer und hoffte inständig, es falsch übersetzt zu haben.

Kurz darauf wurde ihm ein mit einer ekligen Flüssigkeit getränktes Tuch auf Mund und Nase gepresst, und seine Sinne schwanden.

Als er aufwachte, war der Schmerz in seinem Zeh immer noch da. Vorsichtig hob er die Decke an, um sich die Spitze seines Fußes anzusehen. Vier kleine Zehen und ein dicker Verband. Seufzend ließ er die Decke wieder sinken. Oma Vahlaria hatte ihm einst erzählt, dass manchmal, auch wenn ein Körperteil nicht mehr bei einem ist, es immer noch wehtun kann. Das nannte man Geisterschmerzen. Und wenn Micah an die Front musste, würde er ihr altes Herz mitnehmen, und es würde ihr so lange in der Brust wehtun, bis Micah es ihr zurückbrachte. Damals hatte der Junge die Worte seiner Großmutter nicht verstanden, aber jetzt, wo er mit verlorenen Zeh allein in diesem Krankenhausbett lag, verstand er sie. Er würde nie wieder nach Hause kommen und der Schmerz darüber würde nie ganz verblassen.

Als der Junge nach einem von Alpträumen durchzogenen Schlaf erwachte, erkannte er den schönen Uniformierten von damals wieder, der auf dem Holzstuhl neben dem Bett saß und ihm die Verbände wechselte. Micah fühlte sich unwohl, sein ungewaschener Fuß und die durchgebluteten Verbände mussten bestialisch stinken, also stellte er sich weiterhin schlafend und beobachtete ihn nur verschwommen durch einen dichten Wald aus Wimpern bei seiner Arbeit. Seine Hände fühlten sich weich auf Micahs Haut an und ließen ihn sogar die Schmerzen vergessen.

»Njet«, ertönte die Stimme des Arztes und der Uniformierte drehte sich um. Njet, so hieß er also.

Micah wollte nicht einschlafen und die Berührung der fremden Finger noch länger genießen, aber sein Körper verriet ihn, und die Erschöpfung raubte ihm erneut das Bewusstsein.

Nach einer weiteren Woche auf der Station wurde Micah in die Baracke zurückgeschickt, und das erste Wiedersehen mit Myra nach seiner Zeit auf der Station erwärmte sein Herz. Die Katze wartete auf der niedrigen Steinmauer, die das Dorf umgab, und als sie Micah erkannte, sprang sie herunter und lief ihm laut miauend entgegen. Micah hockte sich lächelnd hin und streichelte ihr übers fleckige Fell.

Kurz darauf saß er wieder bei Oma Rashel am Tisch und schlürfte Lauchsuppe. Oma Rashel, so nannte er sie jetzt in Gedanken, denn sie erinnerte ihn sehr an seine eigene Oma.

Er erzählte ihr von seiner Operation und zeigte ihr den Verband, obwohl sie wahrscheinlich nur die Hälfte von dem verstand, was er sagte. Myra kam hereingeschwänzelt und verlangte miauend nach einer Schüssel Ziegenmilch. Rashel stand lächelnd auf und ging zum Tonkrug, um ihr Milch einzuschenken. Plötzlich klopfte es an der Tür und Micahs Herz zog sich vor Schreck zusammen, um dann doppelt so schnell in seinem knöchernen Gefängnis zu schlagen.

»Erein«, rief Rashel und die Tür öffnete sich. Erstaunt weiteten sich Micahs Pupillen. Es war Njet.

Er schien ebenso überrascht von seiner Anwesenheit und blieb wie versteinert im Türrahmen stehen. Großmutter Rashel lächelte den Neuankömmling freundlich an und deutete dann auf Micah. »Micah sein Gast.«

Die Worte lösten Njets Starre und seine hellen Augenbrauen hoben sich, bevor er sehr schnell mit der Frau sprach, so dass Micah ihm nicht folgen konnte. Doch Rashel ließ sich von Njets bösem Funkeln und seinem Wortschwall nicht beeindrucken, winkte genervt ab und ging zum Herd, um eine neue Schüssel Suppe abzuschöpfen. Njet presste sichtlich verstimmt die Kiefermuskeln zusammen, doch als Rashel die dampfende Schüssel auf den Tisch stellte, sich setzte und auffordernd auf den leeren Platz neben sich klopfte, folgte der Uniformierte sichtlich widerwillig ihrer Aufforderung. Micah vermutete, dass Njet Rashels Enkel war oder dass sie zumindest irgendwie im Blutverhältnis standen. Und sein Unmut über Micahs Anwesenheit war verständlich, sie wurden zwar im Dorf geduldet, aber nur als Vagabunden. Streuner, denen man ein Stück Fleisch zuwerfen durfte, die aber nicht mit am Tisch saßen.

Rashel schien sich jedoch nicht um diese stumme Regel zu kümmern und summte fröhlich vor sich hin, während Njet steif zu essen begann.

Micah fühlte sich unbehaglich und hielt den Blick auf die Tischkante gesenkt. Es wäre wohl besser, wenn er diese Ecke des Dorfes von nun an meiden würde. Er wollte nicht, dass Rashel seinetwegen Ärger bekam.

Umso schwerer fiel ihm der Abschied, als Micah kurz vor der Sperrstunde aufbrach und einen letzten traurigen Blick durchs Fenster auf Rashel und Myra warf, deren dunkle Umrisse sich wie Scherenschnitte im Licht einer brennenden Kerze abzeichneten.

*

Eine Woche nach seinem letzten Besuch im Dorf wurde Micah wieder in die Krankenstation gebracht. Er saß auf einem einfachen Holzstuhl im Behandlungszimmer und wartete darauf, dass der Arzt hereinkam. Sein Phantomzeh schmerzte kaum noch und sein Gang hatte sich nach der Amputation nur geringfügig verändert. Kurz nach dem Aufstehen hatte er eine vorübergehende Gleichgewichtsstörung, die aber nach wenigen Minuten wieder verschwand. Alles in allem schien er noch einmal Glück gehabt zu haben. Soweit ein Kriegsgefangener in der Fremde von Glück sprechen konnte.

Er hörte Schritte vor der Tür und blickte erwartungsvoll auf. Doch statt des bebrillten Arztes erschien Njet. Der junge Offizier mit den goldenen Locken verharrte einen Moment unschlüssig auf der Türschwelle des Behandlungszimmers, denn offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Micah sich dort aufhielt, bevor er sich daran erinnerte, wer er war, und entschlossen auf den Aktenschrank zuging, so dass Micah nur noch seine olivfarbene Rückansicht betrachten konnte.

Er griff nach der Akte und wollte gerade gehen, als er noch einmal innehielt und sich zu Micah umdrehte. »Du hast sie lange nicht besucht. Wenn es an meiner Anwesenheit bei deinem letzten Besuch lag, kannst du ganz beruhigt sein. Ich bin nicht glücklich darüber, aber ich werde es nicht melden.«

Micahs Herz galoppierte aufgeregt, als er schüchtern antwortete: »Ich will nicht, dass Rashel meinetwegen Ärger bekommt. Sie war so nett zu mir. Deshalb denke ich, dass es besser ist, wenn ich sie nicht mehr besuche.«

»Sie ist krank«, antwortete Njet unerwartet. »Bettlägerig. Und sie fragt ständig nach dir.«

Verwirrt blinzelte Micah und wusste nicht, was er antworten sollte. Doch bevor er dazu kam, trat der namenlose Arzt ein, und Njet verließ schnell mit der Akte unter dem Arm den Raum.

Den Rest des Tages wog Micah unermüdlich ab, ob er es wirklich wagen konnte, Rahsel noch einmal zu besuchen, oder ob er ihre Gesellschaft besser meiden sollte.

Sie ist krank, hallte Njets Stimme in seinen Gedanken wider. Bettlägerig. Und sie fragt ständig nach dir.

Rahsel war die Einzige gewesen, die ihn freundlich behandelt und sogar in ihr Haus eingeladen hatte. Sie hatte ihm zu essen gegeben und seinen Worten aufmerksam zugehört, auch wenn gut die Hälfte von dem, was er gesagt hatte, in ihren Ohren wahrscheinlich keinen Sinn ergeben hatte. Es hatte ihm gereicht, dass es noch jemanden gab, der ihn weiterhin wie einen Menschen behandelte.



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Wintermarsch (Ideenzauber 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt