EINS

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Als ich da so stand und durch das Fenster meiner Eltern sah, überkam mich ein grässliches Gefühl. Wie immer, wenn ich hier stand und ihnen zusah, wie sie lebten. Es kam mir vor wie eine Serie, in der ein Schauspieler fehlte. Er wurde gefeuert, weil er nicht mehr in das Bild der perfekten Familie passte und der Abschied fiel niemandem schwer, denn heute konnten sie ihre Serie wieder in Gelassenheit weiter führen.

Ich hasste dieses Gefühl.

Ich wusste selbst, dass es mich wie ein Masochist fühlen ließ mir mehrmals in der Woche den Anblick zu erlauben den Menschen beim Lachen und glücklich sein zuzusehen, während ich hier draußen in der Kälte verkümmerte. Während ich doch eigentlich bei ihnen sein sollte und die Wärme um sie herum spüren sollte.

Früher konnte ich in den Gesichtern meiner Geschwister und meiner Eltern noch Trauer und Schmerz erkennen, weil es auch für sie nicht einfach war, aber jetzt war es nicht mehr so. Die Zeiten vergingen und sie konnten sich an den Gedanken gewöhnen, dass ich kein Teil mehr ihrer kleinen Familie war.

Es gab einen Tag, schon lange her, da sah ich meinen Vater allein an dem Esstisch sitzen und weinen. Es war elf Tage nachdem ich gegangen war und ich wusste, dass das der Grund war, warum er trauerte. Ich wusste nie wieso, doch mir gab dieser Anblick Genugtuung. Mir schenkte es Trost zu wissen, dass ich fehlte. Auch, wenn es nur er war, der dort saß, wusste ich, dass ich meine Spuren hinterließ.

Doch diese Genugtuung wurde mir nicht lange gegönnt.

Meine Mutter setzte sich an diesem Abend zu ihm und sagte ihm Dinge. Ich wusste nie, welche Worte es waren, die ihn dazu brachten, aufhören zu können zu trauern, doch seit diesem Abend habe ich ihn nie wieder weinen gesehen. Es wäre falsch zu behaupten, dass es mir nicht fehlte, denn das tat es. Es fehlte mir auch jetzt.

Ich konnte den Weihnachtsbaum durch den Türrahmen erkennen, der zum Wohnzimmer führte. Sie hatten ihn geschmückt, wie sie es immer taten. Rot und weiß. Ich wünschte, ich hätte ihnen zusehen können, als sie die vielen Kugeln und Kerzen daran gesteckt haben. Es war schon viel zu lang her, als ich solch eine Sicht genießen konnte, denn ich konnte mich daran erinnern, dass ich an dem Weihnachten bevor ich gegangen war nicht bei ihnen war, während sie den Baum schmückten. Mein Vater hatte mich gebeten das Weihnachten in 2011 mit ihnen zu sein, doch ich wollte nicht. Ich verbrachte den Weihnachtsabend mit Marcus. Diesem Wichser.

Heute wusste ich, dass es falsch war. Doch heute wusste ich auch, dass viele Dinge falsch waren, die ich tat.

Meine Schwester trug wieder eines ihrer schönen Kleider. Sie liebte rote Kleider und trug sie jedes Jahr zur Weihnachtszeit. Früher hatte ich sie ständig deswegen aufgezogen, doch heute gab es kaum etwas Schöneres für mich. Ich liebte es, wie glücklich sie aussah und lachte, als mein Bruder ihr etwas sagte. Im Sommer konnte ich oft die Klänge ihrer Stimme hören, weil die Fenster geöffnet waren, doch heute waren sie geschlossen. Es schneite heftig.

Die Ecken des Fensters waren bereits gefroren und kleine Muster bildeten sich, die mir die komplette Sicht auf meinen Vater versperrten. Ich konnte nur erkennen, dass er wie jedes Jahr den selbstgestrickten Pullover von Großmutter trug. Sie war vor fünf Jahren im Winter gestorben und seitdem trug er ihn jeden Tag an Heilig Abend.

Meine Mutter hasste diesen Pullover und sie wollte diesen Pullover schon mehrmals beseitigen, das wusste ich. Einmal erwischte ich sie dabei, wie sie ihn in die Altkleidersammlung tun wollte. Sie war noch nie ein sehr verständnisvoller Mensch und konnte nie verstehen, wieso mein Vater so an diesem Kleidungsstück hing.

Ich spürte etwas um meine Beine huschen. Ich schaute auf den eisernen Grund unter mir und gelbe Katzenaugen starrten zu mir hinauf. Die braun getigerte Katze meines Vaters miaute zu mir hinauf und sofort fingen meine Mundwinkel an zu zucken. Mit einem Seufzer kniete ich mich vor sie und hob sie auf meinen Arm. Ich streichelte ihr vorsichtig über den Rücken und merkte, wie sehr ich zitterte. Es war so verdammt kalt, dass selbst manches Stück Fell der Katze gefroren waren.

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