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Mühselig schlage ich die Augen auf. Ein seltsamer Geruch, der vorhin noch nicht da war umgibt mich und etwas piekst unangenehm in meinen Rücken. Meine Nase schnuppert weiter und ein Gefühl der Vertrautheit keimt in mir auf, als ich die Mischung aus frischem Stroh und verschiedenen Ausdünstungen einiger Stalltiere in der stehenden und feuchtwarmen Luft um mich herum, einatme. Es erinnert mich an etwas, das ich aber im Moment nicht direkt zuordnen kann. Als Kind hatten meine Schwester und ich einen Hamster, aber weitere Tiere erlaubten Mama und Papa nicht. Etwas Feuchtes berührt meine Hand und erschrocken lasse ich einen lauten Schrei los, was dazu führt, dass ein empörtes Quieken vor mir ertönt. Ich starre auf die Rüsselscheibe eines Ferkels, in der sich die Nasenlöcher etwas aufblähen, als ich meinen Kopf etwas zur Seite drehe, um einen besseren Blickwinkel zu haben. Neugierig mustern mich zwei schwarze Knopfaugen, ehe das Tier mit einer Leichtigkeit durch das Stroh davonläuft und sich seiner Familie anschließt, die sich alle in die gegenüberliegende Seite des Stalles drängen, in dem ich gelandet bin.

Komisch... Eben war ich noch im Schlafzimmer meiner Eltern.

„Komm schnell, Hilde", ruft eine männliche Stimme direkt neben mir und ich zucke erschrocken zusammen. Entweder hat er sich lautlos angeschlichen oder er stand dort schon die ganze Zeit. Unbehagen bereitet sich in meinem Körper aus. Der Fremde tritt in einen schwachen Lichtbalken, der sich mühsam ins Innere des Stalls drängt. Sein Gesicht ist trotzdem nicht sichtbar, ich versuche aber auch nicht direkten Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Stattdessen fokussiere ich mich auf den schwarzen Hut auf seinem Kopf, der mich stark an das Teil erinnert, das Papa immer getragen hat, wenn wir an den Sonntagen in die Kirche gegangen sind. Komischerweise ist es ein weißes Hemd und eine schwarze Anzugshose, das der Fremde am Körper trägt und welches so gar nicht zu diesem Ort passen mag. Aber womöglich ist er gar kein Bauer und nur zufällig hier. Andere Gedanken darf ich jetzt einfach nicht zulassen...

Aber wo genau bin ich? Und wie soll ich mich jetzt verhalten? Weiter liegen bleiben und mich als stumm ausgeben oder doch lieber aufspringen und so schnell wie möglich davonrennen? Und wo ist eigentlich das Tagebuch? Bin ich etwa dort hineingezogen worden, wie Harry Potter das mit dem Notizbuch von Tom Riddle passiert ist?

„Was ist es, Hermann?", höre ich eine weibliche Stimme und die Frau zu der sie gehört, kommt immer näher. Verzweifelt versuche ich den Speichel, der sich in meinem Mund ansammelt hinunterzuschlucken, aber es kommt immer mehr. Hoffentlich muss ich nicht gleich brechen. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du dem Stall fernbleiben sollst? Wir haben doch Jakob, der sich um die Schweine kümmert. Wäre es nicht besser, wenn du ins Haus gehst und dich frisch machst, ehe deine Schwester anreist? Du weißt doch wie penibel sie ist."

Die Panik kocht siedend heiß in mir und das Organ in meiner Brust springt sofort darauf an. Wie eine Trommel bebt es in mir.

„Wer ist das denn?", vernehme ich plötzlich ein Kreischen und schaue zu, wie diese Hilde wie eine Furie auf ihren Mann zustürmt, als sie mich erblickt. Hektisch beginnt sie an seinem weißen Hemd zu ziehen. Vorsichtig richte ich mich auf, komme aber nur wackelig auf die Beine. „Das kann doch nur eine Hexe sein. Schau ihr leuchtend rotes Haar an. Was denkst du hat das zu bedeuten, Hermann?"

„Schau dir das Kind doch an, Hilde", wispert Hermann. „Die Ähnlichkeit zu Martha ist überwältigend... Vielleicht ist es unser Mädchen, das zu uns zurückgekehrt ist. Wie sonst soll sie hier gelandet sein?"

„Das ist nicht gut, Hermann", fleht Hildegard. Sie wischt sich die Hände an der grauen Schürze ab, die sie über einem weißen Leinenkleid trägt. „Martha ist... tot. Du weißt das genauso wie ich. Es ist Zeit, dass du es endlich akzeptierst. Schau dir diese Hexe doch an... Nichts hat sie mit meinem kleinen Mädchen gemein. Und was trägt sie da am Körper? Da kann doch nur der Teufel seine Hände im Spiel haben. Womit haben wir das nur verdient?" Ihr Schluchzen hallt unangenehm laut in meinen Ohrmuscheln.

Zittrig blicke ich an mir hinab. Eigentlich bin ich ziemlich normal angezogen. Mit Anfang zwanzig ist es noch gar nicht so abwegig mit einer löchrigen Jeans herumzulaufen und was an meinem roten Pullover auszusetzen ist, kann ich auch nicht verstehen.

Mein Mund formt Worte, die aber nicht an die Oberfläche dringen wollen, weil meine Stimme eiskalt ihren Dienst versagt.

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Hermann und Hilde sind mir gar nicht so unbekannt, wie ich mit Entsetzen feststelle. Nach und nach sickert die Erkenntnis in jede Zelle meines Gehirns. Ich habe sie schon einmal auf dem Dachboden meines Elternhauses gesehen, konnte aber nicht mit ihnen sprechen und sie auch nicht berühren, weshalb ich das alles auf meine kindlichen Fantasien geschoben habe.

Aber jetzt weiß ich es besser...

Hermanns TagebuchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt