„Du bist es wirklich, Papa?", hauche ich schwach, als ich die Augen wieder aufreiße. Ich knie auf den kalten Fliesen der Küche meines Elternhauses. Meine Stimme bricht unter der Erkenntnis, dass ich meinem Vater gegenüber stehe, der erst vor ein paar Wochen gestorben ist und jetzt quicklebendig vor mir steht, als wäre nie etwas geschehen. „Kann ich dich umarmen?"
„Aber natürlich, Martha", sagt er. Die Fragezeichen stehen ihm ins Gesicht geschrieben und trotzdem gibt er mir den Moment, hält mich fest, während ich in seinen Armen zerbreche. Das hier ist der schönste Moment in meinem Leben, aber gleichzeitig auch der Schrecklichste, weil ich weiß, dass er nicht anhalten wird. Er wird verstreichen und ich kann nur dabei zuschauen, unfähig etwas dagegen zu unternehmen.
Es ist eine bittersüße Qual.
Ich atme den vertrauten Geruch meines Papas ein, der mich durch meine Kindheit getragen hat. Es gab so viele schöne Momente, die nur so auf mich niederprasseln, während ich mich von dem Mann halten lasse, der mir das Leben geschenkt hat.
„Was ist denn los, mein Sonnenschein?", fragt er vorsichtig nach, was ich wieder nur mit einem Kopfschütteln quittiere. Es tut weh, dass ich ihm die Wahrheit nicht sagen darf und kann. Für ihn scheint alles normal. Er hat keine Ahnung, dass er bald nicht mehr leben wird und ich kann es ihm unmöglich sagen.
„Was würdest du tun, wenn du deinen Vater noch einmal sehen könntest? Wenn ihr vielleicht eine Stunde miteinander hättet, ehe ihr euch wieder verabschieden müsst?", bringe ich schließlich heraus.
„Ich weiß... Ich weiß nicht, Martha. Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?"
„Bitte Papa." Es ist wohl die Dringlichkeit in meiner Stimme, die ihn zum Grübeln und schließlich zum Reden bringt.
„Eine Umarmung wäre natürlich das Wichtigste. Aber ich würde auch über die schönen Zeiten reden, die wir miteinander verbracht haben." Er stoppt für einen kurzen Moment und blickt mir liebevoll in die blauen Augen. „Und ich glaube ich würde mich auch bei ihm entschuldigen für all die Dinge, die ich ihm an den Kopf geworfen habe und für jeden Streit zwischen uns. Vielleicht würde ich ihn auch fragen, ob er stolz auf mich ist."
Tränen schwimmen in meinen Augen und ich schaffe es nicht mehr sie zurückzuhalten.
„Jetzt machst du mir doch etwas Sorgen", sagt er schnell. „Was ist denn passiert?"
„Bist du... Bist du stolz auf mich, Papa?", schniefe ich. Ich glaube es ist eines der Dinge vor denen ich mich immer am meisten gefürchtet habe und diese Frage deswegen nie gewagt habe, als er noch am Leben war.
Es entsteht eine Pause, die sich wie die längsten Sekunden meines Lebens anfühlen. Noch nie war mir so unangenehm wie jetzt. Das Herz rast in meinem Brustkorb, meine Hände sind schweißnass und hilflos versuche ich sie mir an meiner Jeans abzuwischen.
„Du warst mein ganzer Stolz seit deine Mama dich kurz nach der Geburt in meine Hände gelegt hat. Alles an dir war... perfekt und ich habe geweint und gelacht gleichzeitig, weil Gott mir mit dir das schönste und wertvollste Geschenk gemacht hat. Du bist mein kleiner Engel und wirst das für immer bleiben."
Ich kann das Wimmern nicht an mir halten. Wie eine Welle der Übelkeit brechen die Klagegeräusche aus meinem Mund heraus. Gleichzeitig durchströmt mich ein Gefühl des Friedens und der Glückseligkeit.
„Jetzt mache ich mir aber schreckliche Sorgen", reagiert Papa sofort. „Bist du sicher, dass es dir gut geht, Martha?"
„Mir geht es g...gut", würge ich hervor und wie zur Bestätigung schafft es ein winzig kleines Lächeln, meinen Tränenschwall zu unterbrechen. „Weißt du noch, als ich vielleicht fünf war und unbedingt Boxauto fahren wollte, obwohl ich eine riesengroße Angst davor hatte?"
Ein Glänzen erscheint in Papas Iriden und lassen sie wie Smaragde strahlen.
„Ich bin einfach mit dir mitgefahren und habe dich gehalten, als die anderen Kinder gegen unser Auto geboxt sind. Du musstest weinen, weil du nicht verstanden hast warum die anderen alle in uns hineingefahren sind. Deine Schwester hat dich aufgezogen, weil es ja eigentlich genau darum geht..."
„Ich habe mich in deinen Armen immer sicher und aufgehoben gefühlt", flüstere ich, weil schon wieder verräterische Tränen in meinen Augen schwimmen. Das hier ist etwas ganz besonderes und andere würde mich dafür sicherlich beneiden, es brennt aber gleichzeitig wie Feuer in mir. „Ich will, dass du das weißt...Papa?"
„Ja?"
„Warum haben wir manchmal Angst davor den Menschen die wir von Herzen lieben, genau das zu sagen?"
„Ich schätze manchen Menschen können wir es einfach nicht sagen, weil sie genauso ticken wie wir selbst", meint er und ein tiefer Seufzer kommt dabei über seine Lippen. „Schau dir uns beide an, Martha. Du hast sehr viel von deiner Mama, bist aber auch mir in sehr vielen Fällen ähnlich. Tief in Herzen sind wir beide fast identisch und ich sehe so vieles in dir, das mich an mich selbst erinnert. Vielleicht fehlt uns genau deshalb manchmal das Gesprächsthema, weil wir beide sehr gerne zuhören, anstatt zu reden. Irgendwo prallen wir immer aufeinander und unsere Sturköpfe sind fast identisch. Am liebsten würden wir es in die Welt hinausschreien, scheitern aber an diesen Eigenarten."
„Ich liebe dich, Papa." Meine Stimme bebt vor Aufregung, aber auch purem Glück.
„Ich dich auch, Martha. Mein Kind. Mein Leben."
Das habe ich so ähnlich schon einmal gehört. Nicht einmal vier Stunden ist es her.
Kann es etwa sein, dass....?
„Ich glaube, dass Gott Gnade mit Hermann hatte", murmele ich mehr zu mir selbst, was Papa aber nicht entgeht. Seine Augen weiten sich und einen Moment starrt er mich nur an, ehe er sich wieder fasst.
„Was hast du da gerade gesagt, Martha?"
„Ich glaube, dass wir beide schon immer miteinander verbunden waren, Papa", antworte ich mit feuchten Augen. „Wir sind schon immer Vater und Tochter gewesen und deine unerschütterliche Liebe mir gegenüber hat mir zwei Mal das Leben geschenkt."
„Ich hatte dieselben Visionen wie du, damals als du meintest jemand würde nach dir rufen. Nur, dass ich derjenige war, der dich gerufen hat, dich aber nicht mehr sehen, geschweige denn berühren konnte", gesteht er leise. „Du hast das Tagebuch gefunden, Martha? Was ist passiert?"
Jetzt kullern die Tränen über meine Wangen.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, Papa", wispere ich.
„Verstehe." Er zieht mich in eine Umarmung. „Ich vertraue darauf, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Mach das Beste aus jedem Moment, den dir dein Leben schenkt und vergiss nie, dass meine Liebe zu dir für immer in deinem Herzen leben wird."
„Ich verspreche es, Papa", schaffe ich es zu sagen, ehe meine Stimme bricht. Ich gebe mich dem Moment mit all meinen Sinnen hin und zu der Traurigkeit mischt sich pure Freude und Hoffnung.
Mein Leben hat vor mehr als hundert Jahren begonnen und trotzdem habe ich erst heute verstanden, was reine und bedingungslose Liebe ist. Ein Vater würde für seine Tochter alles liegen und stehen lassen, nur um sie glücklich zu sehen. Und dann gibt es da noch ganz besondere Väter, die sogar einen Pakt mit dem Teufel eingehen um sicher zu gehen, dass das geliebte Kind ein glückliches, langes und zufriedenes Leben führen darf.
Manche Menschen gehören einfach zusammen.
Und das für immer und ewig.
Da kann nicht einmal der Tod etwas dagegen ausrichten.
Und schon gar nicht der Teufel!