Rot

226 32 11
                                    


Ein roter Schal. Ich hasse rot. Warum hat sie mir einen roten Schal geschenkt?

„Gefällt dir dein Geburtstagsgeschenk, Liebling?", fragt meine Mutter. Ich ignoriere sie. Rot. Das ist alles, woran ich denken kann.

Plötzlich bemerke ich, dass alles um mich herum rot ist. Das Wasser in meinem Glas, die edlen Vorhänge an den Fenstern, die sich wild kringelnden Haare von ihr. Ich schrecke zurück.

„Alles gute zum Geburtstag, Schwester!", sagt sie. Sie ist rot. Ihre Haut, ihre Haare ihre Klamotten. Alles. Ich schlucke. Rot.

„Ich liebe rot!", sagt sie. „Rot ist meine Lieblingsfarbe!" Sie lächelt. Dann nimmt sie ein rotes Messer von der Kommode und schneidet sich die Pulsadern auf.

Blut quillt heraus. Rotes Blut. Ich schreie.

Schluchzend und wild um mich schlagend wachte ich auf. Blut. Ich sah noch immer das Blut auf ihren Händen. Rotes Blut. Mein Herz raste, als wäre es ein Rennauto auf den den letzten Metern vor dem Ziel. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Blut.

Ich lauschte angestrengt, doch es blieb ruhig. Ich atmete auf. Meine Eltern waren inzwischen daran gewöhnt, dass ich mitten in der Nacht schreiend in meinem Bett saß.

Ich schob die Bettdecke zurück und setzte meine Füße auf den kalten Fußboden. Langsam rutschte ich an den Rand meines Bettes und taumelte ins Badezimmer.

Ich stützte mich auf das Waschbecken, schaute in den Spiegel und schrak zurück.

Ein leichenblasses, mageres Mädchen schaute mich aus großen, tief in den Höhlen liegenden Augen an. Verschwitzte schwarze Haarsträhnen hingen ihm im Gesicht und es zitterte am ganzen Körper. Das Mädchen war ich.

Langsam löste ich den Blick von meinem Spiegelbild und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann schlurfte ich vorsichtig zurück in mein Zimmer und hockte mich auf den Boden, den Rücken gegen das Bett gelehnt.

An Schlaf war nicht mehr zu denken, sonst würden die Alpträume zurückkommen, doch ich schaltete trotzdem kein Licht ein. Abgesehen von dem Mondlicht, das durch einen Spalt zwischen den Gardinen drang und auf mein Bett fiel, war es stockdunkel im Zimmer.

Noch immer zitternd stützte ich meinen Kopf in die Hände und versuchte wieder normal zu atmen. Ein Rückfall war jetzt das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Zwei Jahre beim Psychologen hatten mir vollkommen gereicht. Am Ende hatte ich ihm sowieso nur noch das erzählt, was er hatte hören wollen, damit er mich in Ruhe ließ, was er letztendlich dann auch getan hatte.

Zwei Jahre hatte ich gebraucht, um den Schock zu überwinden. Zwei Jahre. Das glaubten zumindest meine Eltern und Dr. Wilson.

In Wahrheit hatte ich noch immer Albträume, redete kein Wort mit ihren Freunden und verabscheute rot. Rot. IhreLieblingsfarbe. Rot. Genauso wie ihr Blut.

Ich schluchzte laut auf, rammte mir meine Faust in den Mund und wimmerte unkontrolliert vor mich hin. Blut. Überall war Blut gewesen. Auf dem Boden, im Waschbecken, auf der Toilette. Rotes Blut. Und inmitten des ganzen Blutes lag sie.

Ich schüttelte mich und machte mir nicht einmal die Mühe, meine zahlreichen Tränen wegzuwischen.

Neben mir auf dem Nachttisch sah ich verschwommen den Umriss eines Buches. Ich streckte meine stark zitternde Hand danach aus, zog sie aber sofort wieder zurück.

Es war ein schwarzes, Stoff bezogenes Buch. Meine Eltern hatten es mir auf den Schreibtisch gelegt, als sieihre Sachen aussortiert hatten. Es war ein rotes Buch gewesen. Rot. Nachdem sie dann wieder gegangen waren, hatte ich mein Tintenglas genommen und das Buch darin getränkt. Jetzt war es schwarz.

Ich wusste nicht, warum ich es aufbewahrt hatte. All die schönen Erlebnisse, die ich mit ihr teilte, standen dort, schwarz auf weiß.

Ich schüttelte den Kopf und schniefte. Eine schwarze Haarsträhne fiel mir vor die Augen. Schwarz. Nicht mehr rotblond. Schwarz.

Ich hatte oft daran gedacht, es ihr gleichzutun. Doch dann wäre überall Blut. Rotes Blut. Rot. Außerdem würde es meine Eltern zerstören. Noch jemanden zu verlieren, könnten selbst sie nicht überstehen.

Meine Tränen waren versiegt, man hörte nur noch mein unregelmäßiges Keuchen. Ich hob den Kopf.

Die Wände meines Zimmers waren kahl, dort wo früher zahlreiche Fotos gehangen haben, sah man nur noch kleine Löcher, die von den Reißzwecken geblieben waren. Unkontrolliert zitternd zog ich mich an der Bettkante hoch und richtete mich auf.

Ich würde das durchstehen. Der Gedanke, dass ich sonst wieder zu Dr. Wilson müsste, stärkte mich ein wenig.

Ich würde in ein paar Stunden wie jeden Tag mit meinen Eltern frühstücken, in die Schule gehen und mich mit meinen Freunden unterhalten. Meine Albträume, Gedanken und Erinnerungen würden nicht nach außen dringen.

Sie würden tief in mir, eingesperrt hinter einer Tür, bleiben, die niemals geöffnet werden sollte.

RotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt