Kick it in Diapers

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"Leo, wenn du jetzt nicht in die Puschen kommst, dann fahren die Jungs ohne dich! Es ist schon 5 nach 10!" Oh. Schon so spät? Warum hatte mein Handywecker nicht geklingelt? Hatte er natürlich. Aber ich hatte ihn ignoriert. Wie immer. Weil ich gerade auf der Toilette saß und besseres zu tun hatte. Was man da halt so macht. Wobei die meiste Zeit fürs Lesen von Kurznachrichten auf meinem Handy draufgegangen war. In unserer WhatsApp-Fangruppe war immer vor einem Heimspiel die Hölle los. Ergebnis-Tipps. Organisatorisches. Schlaue Sprüche. Dabei hatte ich ein kleines bisschen die Zeit aus den Augen verloren. Zum Glück war Mama meine Zeit-Fallback. Während das Wasser aus dem Spülkasten noch kaum auf dem Weg in Richtung Kanalisation war, jagte ich schon im Vollsprint die Treppe hoch und feudelte mir nur Sekunden später prophylaktisch mit der Zahnbürste durch den Mund. Das musste reichen. Dann noch ein Spritzer Deodorant - nicht, weil ich es tatsächlich schon brauchte, sondern weil's alle machten. Dann der nächste Sprint in mein Zimmer. Das lag direkt unterm Dach und war früher das Schlafzimmer des Besitzer-Ehepaares gewesen. Was den Vorteil hatte, dass ich deshalb nicht nur ein eigenes Badezimmer hatte, sondern in einem separaten Räumchen auch einen begehbaren Kleiderschrank hatte. Dort war's, wie ich fand, für einen Jungen ziemlich ordentlich. Mama und Papa sahen das anders. Logisch. Aber immerhin fand ich alles, was ich brauchte. Also meistens. Was ich jetzt aus einer Schublade angelte, die mit einem kleinen Schnappmechanismus nur für Menschen zu öffnen war, die sich damit auskannten, war eigentlich immer genau an diesem Ort. Eine Pull-up-Windel. Marke: Abena. Maximale Saugstärke. Der Tag würde lang werden. Bis vor ein paar Wochen hatten sich in der Schublade noch blaue Hochziehwindeln mit lustigen Tiermotiven befunden. Aber aus denen war ich jetzt tatsächlich im wahrsten Wortsinn rausgewachsen.

Routiniert zog ich mir meine hellblaue Slip-Boxershort aus (natürlich verziert mit dem Logo meines Lieblingsvereins) und feuerte das Teil in die große Wäschebox, die direkt neben der Tür stand. Dann stieg ich routiniert in die Windel und zog mir das dicke Paket so nach oben, dass das Ding möglichst eng anlag. Dann griff ich in die nächste Schublade und nahm mir einen gelb gestreiften Windelbody heraus. Größe 146. Kopf und Arme durchstecken und dann die 4 Druckknöpfe zwischen den Beinen zusammendrücken. Klips, klips, klips, klips. Alles wie immer. Zum Schluss noch eine frische Boxershort, die auf eine Stapel neben meinen T-Shirts lag. Ich zuppelte noch schnell den Gummi der Unterhose glatt und startete durch zurück in mein Zimmer. Da wartete auf einem von insgesamt drei modernen Sitzsäcken mein Fan-Outfit. Das neonblaube Trikot, die passende leuchtend gelbe Hose, der Fan-Schal, eine dünne Beanie-Mütze und eine neutralschwarze Lauf-Tight, die wir im Team bei diesem Wetter alle trugen. Papa musste immer furchtbar lachen, wenn ich meine schlaksigen Beine in die enge Hose fummelte. "Wir hatten früher ja einfach nur eine Strumpfhose drunter! Und das sah genauso bescheuert aus!", hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Er fuhr gerade meinen drei Jahre jüngeren Bruder zu seinem Basketball-Spiel. Ja, Papa. Und eure Telefone hatten noch Wählscheiben und Kabel! Sowas trugen die Profis nunmal, wenn's kühler wurde. Um die Muskeln warm zu halten. Das wusste man doch! Trotzdem musste ich grinsen. Weil ich wusste, dass Papa das nur sagte, um mich zu ärgern. Und weil beim Wort "Strumpfhose" kurz ein Erinnerungsfetzen in meinem Kopf auftauchte, der sich wenige Augenblicke später manifestierte, als ich auf dem Weg nach unten an einem Foto vorbeikam, das mein drei Jahre jüngeres Ich zeigte. Auch im Stadion. Die Trikotfarben ähnlich, aber eben das Design von vor 3 Jahren. Wir hatten bei einem Jugendturnier den ersten Platz abgeräumt und zur Trophäe einen Auftritt als Einlaufkinder gewonnen. Mit den Profis ins Stadion einlaufen. Der Wahnsinn! Bei der Erinnerung daran lief es mir auch heute noch heißkalt den Rücken runter. Ja, weil ich meinen Idolen so nah war. Aber leider auch wegen des Gesichtsausdrucks, der auf dem Foto ziemlich gut zu erkennen war. Während der Rest meiner Kumpels selig strahlend in die Kamera funkelten, konnte man in meinem Gesicht vor allem angespannte Leere erkennen. In dem Moment, als der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hatte, war ich emotional ganz sicher nicht auf Wolke 7 gewesen. Das sah ein Blinder mit Krückstock. Ach wenn's heute nur noch eine skurrile Episode war, konnte ich mich natürlich sehr genau daran erinnern, was damals passiert war. Sowas vergaß man nicht. Allerdings hatte ich hier und jetzt überhaupt keine Zeit, in ollen Kamellen zu schwelgen. In 7 Minuten startete mein D-Jugend-Team in Richtung Bahnhof, wo wir den Zug in die knapp 2 Stunden entfernte Metropole nehmen würden, um "unsere" Mannschaft bei ihrem Heimspiel anzufeuern!

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