Malik
Die Hände in die Hüften gestemmt, baut mein älterer Bruder Artemis sich vor mir auf. Zuerst schnauft er nur verzweifelt, doch dann findet er seine Stimme. »Malik, du kannst nicht vor deiner Verantwortung davonlaufen«, droht er in einem durch Wut verzerrtem Tonfall.
»Ich laufe nicht davon, Bruder. Du solltest wissen, dass ich meinen Job sehr ernst nehme«, stelle ich beharrlich klar. Reflexartig mache ich den Rücken so gerade wie möglich, als könne meine Größe meinen Standpunkt noch besser untermauern.
Doch Artemis, der mich nichtsdestotrotz um einen Kopf überragt, blickt nur skeptisch auf mich hinab und verzieht den Mund zu einer schmalen Linie.
Seit einer halben Stunde versucht dieser fahnentreue Vertreter meiner Sippe, mich davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee sei, unter Menschen zu gehen. Eine alte Leier derer ich mehr als überdrüssig bin. Wie anti kann man denn nur sein?
Entnervt stoße ich einen großen Schwall Luft aus meinen Lungen. Dass mein Vorhaben auf so viel Unverständnis stößt, hätte ich nicht erwartet. Genau genommen glaubte ich, es wäre meinem älteren Bruder völlig gleichgültig.
»Artemis, lass es doch endlich gut sein. Ich habe etwas auswärts zu erledigen und sobald das getan ist, kehre ich zurück und widme mich weiter hingebungsvoll meiner Arbeit. Beruhigt dich das?«
Verzweifelt wirft er seine beiden langen aber nicht weniger imposant durchtrainierten Arme in die Luft, bevor sie gleich darauf zurück nach unten schnellen und wie leblose Äste an ihm herabhängen. »Das beruhigt mich in keinster Weise. Ich halte es für einen Fehler, deinen Posten zu verlassen. Aber bitte, wenn du davon überzeugt bist, dass etwas anderes als deine Aufgabe wichtiger ist, dann geh!«
In einer schwungvollen und gleichzeitig überaus theatralischen Drehung macht Artemis auf dem Absatz kehrt und verlässt mein Büro. Die hinter ihm zuknallende Tür, die den Türrahmen für einen Moment zum Erzittern bringt, gibt den krönenden Abschluss seines Auftrittes.
Müde massiere ich mir die Schläfen mit den Zeigefingern und lasse mich im Bürostuhl nach hinten fallen, bis mein Rücken die kühle Lederlehne berührt. »Wenn ich doch nur wüsste, was ich überhaupt auswärts zu erledigen habe«, murmle ich verzweifelt und schließe die Augen.
Sofort macht sich wieder dieses unbestimmte Gefühl in meiner Brust breit, welches ich seit einigen Tagen verspüre. Nur ist es mittlerweile sehr viel stärker als zu Beginn. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass dessen zunehmende Intensität etwas mit dem baldigen Eintreten eines mir unbekannten Ereignisses zu tun hat.
Woher ich das weiß? Ich habe keine verdammte Ahnung. Es ist wie eine Intiution, derer ich mich nicht verwehren kann. Ohne den leisesten Zweifel scheint mein Inneres zu wissen, dass etwas passieren wird.
Anvertrauen kann ich mich in dieser Angelegenheit niemandem. Mein Vater würde mich bis ins Unendliche verspotten und Artemis sich unaufhörlich um mich sorgen. Es scheint eine Sache zu sein, die ich ohne fremde Hilfe ergründen muss. Doch eines ist sicher, ich werde dem nachgehen. Mein Körper lässt gar nichts anderes zu. Er drängt mich förmlich, meinen Posten zu verlassen.
***
Mit einem letzten prüfenden Blick betrachte ich mich in einem der vier überdimensionalen Spiegel in der Lobby unseres Hauptquartiers. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in dieser Aufmachung wirklich so unauffällig aussehe, wie ich es mir ursprünglich dachte. Doch woher soll ich auch wissen, wie ein langweiliger Mensch sich kleidet? Mein schwarzer, maßgeschneiderter Anzug erschien mir jedenfalls overdressed.
Entschlossen ziehe ich die Kapuze über die Cap auf meinem Kopf und verlasse das hohe Gebäude aus schwarzem Stein. Wie ein Mahnmal steht es inmitten der restlichen, wesentlich moderneren Stadtarchitektur und wirkt völlig deplatziert, wie aus einer längst vergangenen Ära.
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Malik
FantasyAls Ilvy an der Schwelle des Todes steht, bewahrt sie ein mysteriöser Retter vor dem Untergang. Malik, ein Mann ohne Herz und mit einer düsteren Wahrheit, rettet sie aus einer tragischen Situation. Doch seine Taten werfen Fragen auf: Wer ist Malik w...